Was steht im Gesetz?, fragt Jesus zurück, und als Antwort zitiert der Gelehrte zwei Verse aus der Schrift (Evangelium Lk 10,25-37)– einer davon steht in unserem Predigttext: Verse aus dem Kapitel 3.Mose 19:
Der Herr sprach mit Mose und forderte ihn auf, mit den Israeliten zu reden und ihnen auszurich-ten: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig. Ich bin der Herr, euer Gott.
Jeder soll seinen Eltern mit Ehrfurcht begegnen, seiner Mutter und seinem Vater. Außerdem sollt ihr den Sabbat einhalten. Ich bin der Herr, euer Gott.
Du sollst deinen Nächsten nicht unterdrücken und ihn nicht ausbeuten. Den Lohn des Tagelöhners sollst du gleich ausbezahlen. Du sollst ihn nicht bis zum nächsten Morgen behalten.
Du sollst Tauben nicht mit Worten schaden. Du sollst Blinden kein Hindernis in den Weg legen. Und du sollst Ehrfurcht haben vor deinem Gott.
Ich bin der Herr.
Bei Gericht soll es nicht ungerecht zugehen: Du sollst den Bedürftigen nicht bevorzugen, aber auch den Mächtigen nicht begünstigen. Stattdessen soll es gerecht zugehen, wenn du für deinen Nächsten Recht sprichst.
In deinem Herzen soll es keinen Platz für Hass geben: Hasse deinen Bruder und deine Schwester nicht! Stattdessen sollst du mit deinem Nächsten reden und ihn auf sein Verhalten ansprechen. So wirst du dich seinetwegen nicht mit Sünde belasten. Du sollst dich nicht rächen und deinen Brüdern und Schwestern nichts nachtragen. Stattdessen sollst du deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr.
Wenn ihr in eurem Land seid und ein Fremder bei euch lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Wie einen Einheimischen sollt ihr den Fremden ansehen, der bei euch lebt. Du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn im Land Ägypten seid auch ihr Fremde gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.
Jesus verweist auf das Gesetz, auf die Thora, als ihn der Gelehrte nach dem Weg zum Leben fragt.
Natürlich verweist Jesus auf die Thora, wie jeder fromme Jude. Seine Bergpredigt und vieles, was er sagt, ist Auslegung der Gebote Gottes.
Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist, sagt Jesus. Klingt das nicht ganz ähnlich?
Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.
Heilig ist nicht irgendwie erhaben und selig lächelnd der Welt entrückt. Heilig ist nicht unberührt und rein. Heilig sollen wir sein mitten in unserem Alltag, mittendrin in Arbeit und Schmutz, Herausforderungen und Konflikten. Dabei sind wir ja nicht vollkommen oder heilig, wir sind schon gar nicht wie Gott, aber Gott öffnet uns in unserem Alltag Türen, dass wir etwas von seiner Heiligkeit erfahren und wiedergeben.
Ihr sollt heilig sein, und gleich danach: ehrt eure Eltern – wie passt das zusammen? Es geht um Achtung und Fürsorge für die Eltern. Lasst die Alten nicht im Stich! Kümmert euch um sie! Das kann sehr unangenehm und mühsam sein, wenn sie gebrechlich sind, stur, schrullig, wenn sie sich nicht pflegen können, wenn sie sogar böse sind. So geht Heiligsein: die Mühe auf sich nehmen, für andere da sein.
Es folgen weitere Gebote, die Bedürftige im Blick haben. Tagelöhner, bei uns die Working Poor, die arbeiten und doch Stütze brauchen, oder die Erntearbeiter, deren Lohn gedrückt wird – wie schaffen wir für alle gerechten Lohn?
Taube und Blinde werden genannt – haben wir die Nöte der Menschen mit Behinderung im Blick? Arme vor Gericht – wie schwer tun sich manche allein damit, ein Schreiben vom Amt zu verstehen. Sozial Schwache haben es schwerer Recht zu bekommen. Ihr sollt heilig sein – und dann geht es sehr konkret darum, sich für die Benachteiligten und Bedürftigen einzusetzen. Das klingt nach viel vergeblicher Mühe und Frust, aber das Gebot ist auch eine Ermutigung: Was Gott euch zumutet, könnt ihr auch. Dort, wo ihr seid, kann es heller werden. Gerade für uns Evangelische haben die Gebote oft einen negativen Klang, als wollte sich jemand durch gute Werke einen Weg zu Gott sichern. Es ist umgekehrt: Gott öffnet uns die Tür. Den ersten Schritt macht Gott, wir können folgen. Der heilige Gott kümmert sich um die Tagelöhner, um die Leute im Dunkeln und um uns. Trotz unserer Trägheit und unserem Egoismus öffnet Gott uns die Tür.
Das zentrale Gebot das wir alle kennen und eher mit Jesus und dem Neuen Testament verbinden, steht zuerst hier, im 3. Buch Mose: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Das klingt, so für sich genommen, eher allgemein und unkonkret, wie: Ihr sollt heilig sein. Der Zusammenhang zeigt, es geht um konkrete Konflikte: Du sollst dich nicht rächen und deinen Brüdern und Schwestern nichts nachtragen. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Jesus zitiert das, wenn es um Feinde geht.
Liebe ist hier nicht ein Gefühl, wie Zuneigung – Gefühle kann man ja auch gar nicht gebieten oder verbieten. Liebe heißt hier: Vertrauen schaffen, wo uns Konflikte trennen, ansprechen, was schwierig ist, um es zu überwinden, versuchen zu verstehen – Liebe will überwinden, was uns trennt, will Brücken bauen, Konflikte aushalten – Liebe will den anderen niemals verletzen, sie achtet ihn.
Wir leben in einer Zeit, in der die Gegensätze immer härter und unversöhnlicher werden. Viele Risse gehen durch unsere Gesellschaft. Kriege erschüttern die Welt. Gegensätzliche Interessen werden mit allen Mitteln ausgefochten.
Und dann gibt es überhaupt keine Basis mehr, miteinander zu reden. „Gehörst du zu denen oder zu uns?“ Ein Stichwort genügt, und schon ist man in einer Schublade. Politikerinnen und Politiker erfahren erbitterte Feindschaft und etliche sogar Gewalt.
So können wir nicht weitermachen. So zerstören wir die Gemeinschaft und die Menschlichkeit, auch die Freiheit, die uns alle trägt.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Liebe gerade deinen Feind! Das ist nicht eine Spinnerei von Gutmenschen, sondern Gottes Gebot
Wir brauchen es zum Überleben.
Einen Hinweis bekommen wir, wenn es um die Fremden geht, denn da heißt es nochmal: Du sollst ihn lieben wie dich selbst.
Unsere geläufige Übersetzung ist mangelhaft. Wörtlich steht da: Du sollst ihn lieben, wie du. Nicht „wie dich selbst“, sondern „er ist wie du“. Dein Mitmensch, dein Gegner, dein Konkurrent, dein Feind ist wie du. Wie du selbst ist er oder sie angewiesen auf Verständnis, Achtung, Fürsorge. Die Fremden soll Israel gut behandeln, weil sie selbst die Not der Fremden kennen und sehr wohl wissen, wie schwer es ist, fremd zu sein und auf das Wohlwollen der anderen angewiesen.
Liebe deinen Nächsten – er ist wie du!
Nimm den anderen an! Achte ihn! Sieh ihn oder sie als deinen Mitmenschen, bedürftig wie du selbst! Nächstenliebe ist kein Gefühl.
Sie verlangt eine Entscheidung von uns.
Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.
Gott hat für uns entschieden.
Gott will uns lieben, uns in unserer Bedürftigkeit sehen, uns sogar vergeben.
Gott öffnet uns die Tür, dass die Welt durch uns heller wird.
So viel traut Gott uns zu.
Amen