Steh auf gegen das Dunkel! – Predigt am 1.Advent 16 über Jes 60,1+2

Predigt am 27.11.16 von Andreas Hansen über Jes 60,1+2

Vor der Predigt erklingt die Kantate, Mache dich auf, von Wolfgang Carl Briegel

„Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir! Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jes 60,1+2)

Es ist dunkel. Endlich sind die Israeliten zurück aus der Verbannung in Babylon. Endlich wieder in ihrer Stadt, nach Jahrzehnten. „Vergesse ich dein, Jerusalem, so verdorre meine Rechte.“ Aber in was für ein Zuhause kommen sie zurück! Der Tempel liegt in Schutt und Asche, der Ort der Begegnung mit Gott. Die Stadt  ist ein Trümmerfeld. Wenige Reste früherer Schönheit, dazwischen Elend. Ihre Häuser gibt es längst nicht mehr. Niemand empfängt sie. Niemand freut sich über ihre Ankunft. Eine klägliche, jammervolle Rückkehr!
Die Enttäuschung nimmt ihnen alle Kraft. Es ist dunkel. Wie kann es weitergehen? Wo bist du, Gott?
Da sagt einer: „Steh auf! Leuchte!“ Er nennt sich Jesaja. Er knüpft an die Worte des Propheten an. Zwei Aufforderungen. Im Hebräischen erkennt man die weibliche Form des Imperativs. „kumi, ori“ Gemeint ist Jerusalem. Steh auf! Leuchte! Denn dein Licht kommt. Gottes Herrlichkeit über dir.

„kumi, ori“ In Hebräisch stehen die beiden Worte am Ende eines Gedichts von Paul Celan. Das Gedicht erschließt sich nicht leicht, aber es ist ein ganz neuer Blick auf Jesaja.

„DU SEI WIE DU, immer

Stant up Jherosalem     

inde  erheyff dich

Auch wer das Band zerschnitt, zu dir hin,

inde wirt      

erluchtet          

knüpfte es neu, in der Gehugnis,

Schlammbrocken schluckt ich, im Turm,

Sprache, Finster-Lisene,

kumi   

ori“

Celan steigt gleichsam in der Sprache hinab. In der Mitte Meister Eckhardts mittelhochdeutsche Übersetzung von Jesaja: Steh auf Jerusalem! Am Ende die Worte im Urtext.Paul Celan schreibt das am 1.Advent 1967. Israel erobert 1967 im Sechstagekrieg Jerusalem – die heiligen Stätten sind wieder zugänglich. Im gleichen Jahr begegnet Celan dem Philosophen Heidegger und ist mit ihm in seiner Hütte in Todtnauberg – er ist erschüttert über Heideggers bleiernes Schweigen zu seiner Verflechtung in das Nazisystem.
Das Erinnern, mittelhochdeutsch die Gehugnis,  knüpft das zerschnittene Band neu, Erinnerung an den „Turm“, an Haft, an Verbannung, an die Qualen der Juden, unter den vielen auch Celans Eltern.
„Schlammbrocken schluckt ich“  – im Klagepsalm heißt es: „Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist.“ Paul Celan steigt in das Dunkel hinab. Er muss Worte dafür finden. „Du sei wie du, immer“ Ich verstehe: „Du, Gott, sei unser Gott! Verbirg dich nicht!“ Und am Schluss: „kumi ori“ „Steh auf! Leuchte!“
Es ist dunkel. „Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker“. Viele Orte des Leids und der Enttäuschung können wir heute nennen, das Dunkel in der Welt und das Dunkel in unserem Leben.

Es ist noch dunkel, aber schon jetzt soll Jerusalem sich erheben und leuchten, „denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir!“ Gott kommt zurück in die heilige Stadt. In Jerusalem wird Gott erscheinen für alle Völker. Wie die aufgehende Sonne strahlt sein Licht auf. Da hat das Dunkel keine Chance mehr. Es wird endgültig vertrieben. Später schreibt der Prophet: „Die Sonne soll nicht mehr dein Licht sein am Tage, und der Glanz des Mondes soll dir nicht mehr leuchten, sondern der HERR wird dein ewiges Licht und dein Gott wird dein Glanz sein. Deine Sonne wird nicht mehr untergehen …und die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben.“ (Jes 60,19+20)
Unser ewiges Licht kommt – es erhellt unsere Existenz, es erleuchtet unsere Tage, auch die unabsehbar finsteren Tage. „Gott wird abwischen alle Tränen“, hörten wir am vergangenen Sonntag.   Der Prophet, der sich Jesaja nennt, und Johannes im letzten Buch des Neuen Testamentes, beide sehen aus dem Dunkel ihrer Tage auf Gott. 
Gott kommt zu uns. Sie ermutigen. Sie wecken Hoffnung. Sie mobilisieren Kraft, sich der Wirklichkeit zu stellen.
„Steh auf! Lass den Kopf nicht hängen! Weil Gott kommt, weil er ganz gewiss zu uns kommt, darum steh auf gegen alles Dunkel! Werde licht! Gott kommt mit seinem Licht, heller als die Sonne. Gott führt uns in seinen neuen Tag.“

Mitten in der finsteren Jahreszeit feiern wir Advent.
Es ist noch dunkel, aber wir besingen das Licht.
„Glaube ist der Vogel, welcher singt wenn die Nacht noch dunkel ist.“ Schon vor den ersten Sonnenstrahlen pfeifen die Singvögel. Sie singen auf den Morgen zu, auch wenn das Licht noch auf sich warten lässt.
Es ist noch dunkel, aber Gott kommt in Jesus auf uns zu. Jesus, das Licht der Welt. Treffender können wir kaum ausdrücken, dass er eins ist mit Gott. Schöneres kann man von Jesus Christus nicht sagen als: er ist mein Licht – Gott vom Gott, Licht vom Licht.
„Dein Licht kommt“ – das hören wir Christen als Hinweis auf Jesus. Wir sollten zumindest wahrnehmen, dass Juden den Text nicht so lesen. Wir Christen glauben: Gott selbst, das Licht,  kommt auf uns zu in Jesus. „Steh auf! Leuchte!“ Wir beziehen das auf uns selbst. Paulus schreibt: „Gott hat es in unseren Herzen hell werden lassen, sodass wir auf dem Angesicht Jesu Christi den Glanz seiner Herrlichkeit erkennen.“ (2.Kor 4,6)
Die Kerzen, die wir im Advent anzünden, sind ein schöner Hinweis auf das Licht. Aber für viele sind sie nur Dekoration. Die Kerzen werden gelöscht, die Lichterketten verschwinden im Karton.
Sind die Kerzen nur christliche Folklore? Bedeuten sie etwas? Bedeuten sie uns etwas?
Ja: Gott kommt auf uns zu.
Wir erwarten ihn, immer.
Wir sind Singvögel. Wir singen auf den Morgen zu und spiegeln sein Licht.
Wir?
Zuweilen gelingt uns doch höchstens ein: „Ach, Gott, wo bleibst du nur?“ Und wenn wir ehrlich sind, erkennen wir bei uns mehr Dunkel als Licht.
Aber wir schauen weg von uns selbst.
Wir schauen und wir weisen auf Jesus: Für ihn ist kein Leben zu dunkel.
Licht geht von Jesus aus: Wärme, Freude, Liebe, Orientierung, Leben.
Bei Jesus darf ein schuldiger Mensch hören: Ich verurteile dich nicht. Dir ist vergeben. Zwischen dir und Gott ist alles in Ordnung.
Bei Jesus darf ein Kranker hören: Dein Vertrauen hilft dir. Du sollst aufstehen, dich aufrichten und wissen: Gott sieht dich an.
Bei Jesus hören wir alle: Ich lebe und ihr sollt auch leben. Jesus hat unser Dunkel geteilt. Er ist das Licht.
Mache dich auf, werde licht!
Steh auf gegen das Dunkel!
Erwarte Gottes Licht, immer!
Sing vom kommenden Tag!

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen