Mt 18,21-34 Reformation: der barmherzige Gott

Predigt am 1.11.15 von Andreas Hansen über Mt18,21-34

Gottesdienst zum Reformationstag

Mt 18,21-22: Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte: »Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er immer wieder gegen mich sündigt? Siebenmal?« »Nein«, gab Jesus ihm zur Antwort, »nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal!

Er sitzt am Tisch und beugt sich vor. Er versteckt sein Gesicht. Seine Klassenkameraden sollen nicht sehen, dass er heult. Er hat sich wehgetan. Seine Hose ist aufgerissen, als er stürzte, als sie ihm ein Bein gestellt haben. Sein Knie blutet. Aber er heult noch mehr aus Wut. Warum können sie ihn nicht in Ruhe lassen? Warum lachen sie immer über ihn? Wenn er nur könnte, er würde es denen zeigen.

Das Maß ist voll. Jetzt reicht sie die Scheidung ein. Wieder und wieder hat sie seine Gemeinheiten ertragen. Sie hat ihn zur Rede gestellt, hat gesagt, so geht es nicht. Sie haben neu angefangen. Aber jetzt hat sie herausgefunden, dass er sie seit Monaten belügt. Er hat gelacht und sie dann auch noch beschimpft. „Die Liebe ist langmütig und freundlich. Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ So schön klang das damals bei ihrer Hochzeit. Aber nein, es reicht. Sie kann nicht mehr. Bevor sie vor die Hunde geht, muss sie einen Schlussstrich ziehen.

Petrus fragt: „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er mir immer wieder Unrecht tut? Ich versuche es ja, Jesus, aber irgendwann ist es doch genug. Wie oft? Sagen wir siebenmal? Das ist ja schon fast übermenschlich.“

„Siebzigmal siebenmal, Petrus. Jetzt schau nicht so erschrocken! Verstehst du nicht? Wenn du anfängst zu zählen, bist du schon auf der falschen Spur. Wenn du nur drauf wartest: „Vier, fünf, sechs, noch eine Kleinigkeit, dann zahl ich´s dir heim.“ Dann hast du ja gar nicht vergeben. Deine Frage ist falsch, Petrus. Natürlich sollst du Unrecht beim Namen nennen. Wenn du einfach schweigst, wird es ja nicht besser. Vergeben heißt nicht, alles klaglos zu schlucken. Aber Vergebung ist mühsam, und es kostet Mut den Mund aufzumachen.“

„Dann geht der Streit ja erst recht los. Dann hält er mir vor, was ich seiner Meinung nach falsch gemacht habe, macht mir Vorwürfe und streitet alles ab, was er getan hat. Ich kenn ihn doch. So ist der eben.“

„Ah, du kennst ihn? Er macht dir sowieso nur Vorwürfe? Er ist nicht bereit zu sehen, was er dir angetan hat? Machst du es nicht manchmal genau so, Petrus? Vergebung heißt, dass du ihm eine Chance gibst. Vielleicht schaffst du es, ihm das zu zeigen. Vielleicht kannst du ihm sagen, was dir wehgetan hat, und trotzdem zeigen: Versuchen wir es noch einmal besser. Vielleicht geht es auch nicht mehr und du musst dich von deinem Bruder trennen. Vielleicht gelingt dir das wenigstens ohne Zorn und Rache, ohne dass ihr einander verachtet und verletzt.“

„Ach Jesus, ich glaub, das hab ich noch fast nie geschafft. Vergebung – das kann doch keiner verlangen. Wenn mir einer blöd kommt, dann hau ich eben zurück. Vergebung – das klingt großartig und fromm, aber es ist doch weltfremd.“

Jesus schaut seinen Petrus an und lächelt. „Ja, so fremd ist Gott. Zum Glück ist sein Reich ganz anders. Zum Glück widerspricht Gott unserer Welt. Ich erzähle euch davon:

Mt 18,23-34: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der mit den Dienern, die seine Güter verwalteten, abrechnen wollte. Gleich zu Beginn brachte man einen vor ihn, der ihm zehntausend Talente schuldete. Und weil er nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und seinem ganzen Besitz zu verkaufen und mit dem Erlös die Schuld zu begleichen. Der Mann warf sich vor ihm nieder und bat auf den Knien: ›Hab Geduld mit mir! Ich will dir alles zurückzahlen.‹ Da hatte der Herr Mitleid mit seinem Diener; er ließ ihn frei, und auch die Schuld erließ er ihm. Doch kaum war der Mann zur Tür hinaus, da traf er einen anderen Diener, der ihm hundert Denare schuldete. Er packte ihn, würgte ihn und sagte: ›Bezahle, was du mir schuldig bist!‹ Da warf sich der Mann vor ihm nieder und flehte ihn an: ›Hab Geduld mit mir! Ich will es dir zurückzahlen‹. Er aber wollte nicht darauf eingehen, sondern ließ ihn auf der Stelle ins Gefängnis werfen, wo er so lange bleiben sollte, bis er ihm die Schuld zurückgezahlt hätte. Als das die anderen Diener sahen, waren sie entsetzt. Sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles. Da ließ sein Herr ihn kommen und sagte zu ihm: ›Du böser Mensch! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich angefleht hast. Hättest du da mit jenem anderen Diener nicht auch Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?‹ Und voller Zorn übergab ihn der Herr den Folterknech-ten, bis er ihm alles zurückgezahlt hätte, was er ihm schuldig war.“

10.000 Talente sind eine phantastische Summe. Da müsste einer hundertmal einen Sechser im Lotto schaffen. Ein unermesslicher Schuldenberg. Geradezu grotesk ist darum die Bitte um Geduld und das Versprechen, alles abzuzahlen. Das schafft kein Mensch. Dem Himmelreichkönig aber geht die Bitte ans Herz. Er erlässt die Schuld. Er schenkt ihm das Leben. „Fang noch einmal an! Mach es besser!“ Er schaut nicht auf die Schuld, sondern auf den Menschen, der vor ihm steht. Nur so hat der Schuldner eine Chance.

So reich beschenkt verlässt der Knecht den Palast des Königs. Er trifft direkt vor der Tür einen, der ihm etwas schuldig ist. Der bittet ihn mit den gleichen Worten, die er selbst noch eben sprach. Die Schuld ist ein winziger Bruchteil dessen, was er erlassen bekam, weniger als ein 500.000-stel. Aber der hartherzige Mensch packt seinen Schuldner am Hals und besteht auf seinem Recht. Er lässt dem anderen keine Luft: „Zahlen, sofort!“ Er sieht nur die Schuld und sein Recht. Er sieht nicht den Menschen. Vergebung ist ein Fremdwort.

„Die Hölle ist nicht da unten.“ In der vierten Klasse habe ich das Thema Reformation mit dieser Geschichte begonnen. Kinder reden mit ihrer Lehrerin über die Hölle und sie begreifen: Hölle, das ist die Angst, Verzweiflung und schlimme Sachen, die wir selbst erleben. Und manchmal machen wir Menschen einander das Leben zur Hölle. Der, den die anderen mobben, erlebt die Hölle.

Jesus erzählt von dem Menschen, der seinem Mitmenschen wegen ein paar Denare an die Gurgel geht. Er bleibt völlig unberührt von der übergroßen Barmherzigkeit, die er selbst erfahren hat.

Den barmherzigen Gott hat Martin Luther entdeckt. Von der Höllenangst war er befreit. Gott schenkt uns Leben. Gott liebt uns und sagt ja zu uns. Gott liebt uns, obwohl wir ihm so oft widersprechen, obwohl wir so hartherzig sind. Gott sieht uns Menschen. Er unterscheidet uns von unserer Schuld. Er spricht uns frei, der Himmelreichkönig. Gott macht uns gerecht, das heißt: er befähigt uns zur Gemeinschaft mit ihm, denn er will mit uns sein. Gott will unsere Gemeinschaft. Das zeigt er uns durch Jesus. Der Diener vor dem König darf sich aufrichten, aufatmen, frei seinen Weg gehen. So ist Gott zu uns.

Schuld bringt uns auseinander. Was wir anderen antun, was wir ihnen schuldig bleiben, trennt uns. Wie Mauern stehen Bosheiten und Verletzungen zwischen Menschen. Sie trennen uns zugleich auch von Gott. Gott aber geht den ersten Schritt. Er kommt auf uns zu. Den riesengroßen Schuldenberg nimmt er weg. Nichts soll uns von ihm trennen. Vergebung darf kein Fremdwort bleiben.

Der Friede Gottes, höher als unsere Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

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