Lk6,36-38

Predigt am 28.6.15 von Andreas Hansen über lk6,36-38

Predigt im gemeinsamen Gottesdienst mit der Gemeinde Sundhouse in Sundhouse

Lk 6,36-38

Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden. Sprecht frei, und ihr werdet freigesprochen werden. Gebt, und es wird euch gegeben werden. Ein volles Maß wird man euch in den Schoß schütten, ein reichliches Maß, bis an den Rand gefüllt und überfließend. Denn das Maß, das ihr verwendet, wird auch bei euch verwendet werden.

Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. St. Petersburg, die Stadt der Zaren, wird 1924 in Leningrad umbenannt. Dort gibt es eine Straße mit dem Namen Barmherzigkeitsstraße. Auch sie bekommt einen neuen Namen: Straße der Textil-arbeiter heißt sie. Das Wort Barmherzigkeit passt nicht in die Sprache der Sowjetunion. Niemand soll auf Barmherzigkeit angewiesen sein. Jeder Mensch soll bekommen, was ihm zusteht, was gerecht ist. Alle sollen gleich sein. Barmherzig können Fürsten gegenüber ihren Leibeigenen sein. Aber ihre Zeit ist vorbei. Barmherzigkeit ist nicht mehr nötig in der neuen Zeit. Auch einen barmherzigen Gott brauchen sie da nicht. Leningrad heißt wieder St. Petersburg. Ob es die Barmherzigkeitsstraße wieder gibt, weiß ich nicht.

Ach, hätten wir doch viele, viele Straßen der Barmherzigkeit und noch viel mehr Menschen, die Jesus folgen und barmherzig sind!

Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Seltsam unzeitgemäß, unmodern klingt das für viele Menschen auch heute und bei uns.

Wir hören die Nachrichten vom Terror. Wir erschrecken gar nicht mehr darüber. Die Staaten der EU können sich nicht einigen über die Unterbringung von 60000 Flüchtlingen, 60000 von geschätzten 60 Millionen, das ist ein Tausendstel. Im Ort Freital in Sachsen wird seit Tagen gegen die Unterbringung von Flüchtling-en demonstriert. Eine unbarmherzige Welt.

Im Beruf erleben die meisten einen enormen Leistungsdruck. Abläufe werden effektiver. Die Bilanz muss stimmen. Das Tempo steigt. Stellen werden eingespart. Wer nicht Schritt halten kann, hat Pech gehabt. Barmherzigkeit ist ein Fremdwort.

Auch sonst ist unser Leben durchgestylt und anspruchsvoll: Die Fitness muss stimmen. Urlaub muss sein. Wir wollen modern sein. Wir wollen vieles haben und nichts verpassen. Wir sind gut versichert. Nichts darf schief gehen. Wehe, wenn wir uns eine Blöße geben! Wehe, wenn wir vor den anderen oder vor uns selbst versagen! Bleibt da noch Platz in unseren Herzen?

Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Jesus widerspricht unserer unbarmherzigen Welt. Jesus widerspricht unserer Habgier, dem Egoismus, der Kälte gegenüber den Bedürftigen, der Härte gegenüber den Schwachen, der Rechthaberei, der Überheblichkeit. Jesus widerspricht unserer Unbarmherzigkeit. Gott ist barmherzig. Er ist der Maßstab.

Wir sehen den, der unter die Räuber gefallen ist, an der Straße liegen. Da fallen uns zahllose Gründe ein, warum wir gerade jetzt keine Zeit haben, nicht zuständig sind, doch sowieso nicht helfen können oder einfach Angst haben. Wir fällen so schnell unser Urteil über einen Menschen. Wir haben nur gehört, was das für einer ist, und geben ihm keine Chance. Wir urteilen über Menschen und sind fertig mit ihnen. Seid barmherzig, sagt Jesus. Zutiefst erstaunlich ist, dass er nicht längst fertig ist mit uns. Zutiefst erstaunlich, dass er uns offenbar zutraut, dass wir uns ändern. Erstaunlich und wunderbar ist, wie sehr uns Gott in seiner Barmherzigkeit entgegenkommt. Überreiche Barmherzigkeit, viel mehr als uns zusteht.

Jesus erzählt vom übervollen Maß. Früher gab es in Baden und sicher auch im Elsaß eigene Hohlmaße. Nach dem Mähen und Dreschen wurden die Arbeiter in soundso viel Sester Getreide bezahlt. Ein Sester ist etwa 15 Liter. Der Sester ist ein Kübel mit einem Griff und hat am oberen Rand einen Bügel. Mit dem Bügel streicht man über das Getreide, damit nicht zu viel bezahlt wird. Zum Beispiel im Wap-pen von Allmannsweier, gar nicht weit von hier, sieht man noch einen solchen Sester. Jesus erzählt von Gottes barmherzigem Maß: „Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man euch in den Schoß geben.“ So viel, wie irgend möglich, will Gott geben. Er setzt den Sester hab, rüttelt und drückt das Getreide, füllt nach, rüttelt noch einmal, füllt weiter nach, bis das Maß übervoll ist. Den Berg, der obenauf entsteht, streicht er nicht weg. So viel wie möglich will er geben.

Seid barmherzig, weil Gott barmherzig ist. Von Anfang an haben wir mehr bekommen, als wir verdienen. Schon als Baby wurden wir, wurde hoffentlich jede und jeder von uns, mit Liebe überschüttet, geküsst und gestreichelt, gefüttert und gewaschen, mit Liedern und Versen und liebevollen Gesten für das Leben gestärkt, damit wir der Welt mit einem Lächeln begegnen.

Wie viele Male hat man uns verziehen? Verschüttete Milch, zerbrochene Gläser, zerrissene Hosen, vergessene Schlüssel, versaute Schulhefte, genommene Vorfahrt, vielleicht auch eine Lüge, eine Bosheit. Hoffentlich hat man uns für all das, was wir falsch gemacht haben, nicht die Rechnung präsentiert. Hoffentlich sagte jemand zu uns: Das kann passieren. Gut, dass nichts Schlimmeres geschehen ist.

Wieviel schenken uns die, die uns lieben, wieviel Geduld und Freundlichkeit und Vergebung. Wieviel barmherzige Unterstützung brauchen wir, wenn wir krank sind, schwach werden, alt sind. Es geht gar nicht anders. Wir würden verkümmern, arm und elend eingehen, wenn wir nicht viel mehr bekämen, als wir selbst schaffen und verdienen. In all der Zuwendung, die uns zuteilwird, erfahren wir Gottes Barmherzigkeit. Mit unserer Bedürftigkeit und Schwäche sind wir angenommen. Wir leben unter Menschen, die ebenso bedürftig sind, Fehler machen, Geduld und Zuwendung brauchen. Nur so kann es gehen. Seid barmherzig! Antwortet auf die Barmherzigkeit Gottes! Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist. Wie gut, dass Jesus die Unbarmherzigkeit nicht hinnimmt. Wie gut, dass er widerspricht.

Er traut uns zu, barmherzig zu sein, wie Gott, unser Vater barmherzig ist. Er will, dass wir seine Zeugen sind. Mit einem Satz aus dem Bekenntnis von Graz will ich schließen:

„Wir vertrauen auf Gott, der uns beruft, Kirche zu sein, andere zu lieben und ihnen zu dienen, Gerechtigkeit zu suchen und dem Bösen zu widerstehen, Jesus zu verkündigen, den Gekreuzigten und Auferstandenen, unseren Richter und unsere Hoffnung.“

Wir vertrauen auf Gott, unseren Vater. Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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