3.Advent, Predigt über 1.Kor 4,1-5

Predigt am 13.12.15 von Andreas Hansen über 1.Kor 4,1-5

Der Predigttext wird erst im Lauf der Predigt vorgelesen

Rita arbeitet noch nicht lange im Betrieb. Von Anfang an spürt sie, dass ihr Sara, eine langjährige Mitarbeiterin eher ablehnend begegnet. Rita sagt sich: „Ich bleibe einfach freundlich und mache meine Arbeit. Dann wird es schon gehen.“ Sie versucht es. Bald ist sie bei vielen im Betrieb als zuverlässige und gute Mitarbeiterin angesehen. Sie hat Erfolg. Sie wird gelobt und sogar befördert. Aber dann ziehen einige sich von ihr zurück. „Bilde ich mir das ein oder grüßen die mich auf einmal nicht mehr? Irgendetwas stimmt nicht.“ Ihr unterläuft ein Fehler. Sara beschimpft sie, völlig übertrieben, aber niemand widerspricht. Sie wird unsicher. „Hat die Kollegin mir absichtlich nötige Infos vorenthalten?“ Sie versucht mit dem Chef zu reden. Der speist sie mit ein paar Worten ab. Rita geht nur noch mit Bauchweh zur Arbeit. Das Klima im Betrieb wird immer unerträglicher. Immer wieder bemerkt sie: „Sie reden über mich.“ Manche begegnen ihr unfreundlich, ja feindselig. Manche antworten ihr einfach nicht. Sie arbeitet unkonzentriert und macht Fehler. Sie wird depressiv und krank. Vielleicht hätte Rita gekündigt. Vielleicht wäre sie tabletten- oder alkoholsüchtig geworden. Gott sei Dank bemerkt eine ältere Mitarbeiterin, dass Rita kurz vor dem Zusammenklappen ist und setzt sich für sie ein. Sie erinnert sie an das, was sie kann, und hilft ihr, dass sie sich selbst wieder etwas zutraut. Sie setzt im Betrieb durch, dass man über Mobbing spricht, über das, was mit Rita geschehen ist. Es wird wieder besser. Wie ein Engel kommt sie Rita vor.

Wie schnell fällen wir manchmal ein Urteil über einen Menschen! Wie leicht ist das Ansehen eines Kollegen, einer Mitschülerin oder eines Nachbarn beschädigt oder zerstört! Und wie schnell wird heute ein vernichtendes Urteil per whatsapp oder facebook überall herumgereicht! Dieses verdammte Schlechtmachen, das Gerede über andere, die Überheblichkeit, andere zu verurteilen, und die Feigheit, dass wir nicht widersprechen, wenn gegen andere Stimmung gemacht wird! Jugendliche und Eltern von Jugendlichen erzählen, dass Mobbing in vielen Klassen ein Problem ist. Jeder hat Angst, er könnte selbst zum Opfer werden. Es ist schwer zu ertragen, wenn die anderen gegen mich sind, wenn ich mich gegen ihr Urteil nicht wehren, nicht rechtfertigen kann. Rettende Engel sind selten.

Dem Apostel Paulus passiert in seiner Gemeinde in Korinth etwas Ähnliches. Paulus hat die Gemeinde mitgegründet. Jetzt herrscht Streit in Korinth. Die Gemeinde ist in verschiedene Gruppen zerfallen. Viele haben sich von Paulus abgewandt. Sie halten Apollos oder Petrus für bedeutender. Nun machen sie Paulus nach Kräften schlecht. Er wird angegriffen und kann sich nicht wehren, denn er ist nicht da. Er erfährt von den üblen, verletzenden Vorwürfen. Nur mit Briefen kann er in den Streit eingreifen.

1.Kor 4,1-5

Nun wisst ihr auch, wie ihr von uns denken müsst: Diener Christi sind wir, denen die Verkündigung der Geheimnisse anvertraut ist, die Gott uns enthüllt hat. Und was erwartet man von jemand, dem eine Aufgabe anvertraut ist? Man erwartet, dass er sie zuverlässig ausführt. Allerdings hat es für mich keinerlei Bedeutung, welches Urteil ihr über mich fällt oder ob sonst irgendeine menschliche Instanz über mich zu Gericht sitzt. Nicht einmal ich selbst maße mir ein Urteil über mich an. Ich wüsste zwar nicht, dass ich mir etwas hätte zuschulden kommen lassen, aber damit bin ich noch nicht gerechtfertigt. Entscheidend ist das Urteil, das der Herr über mich spricht. Urteilt also nicht vorschnell, sondern wartet, bis der Herr kommt. Er wird alles Verborgene ans Licht bringen, alles, was jetzt noch im Dunkeln liegt, und wird die geheimsten Gedanken der Menschen aufdecken. Dann wird jeder von Gott die Anerkennung bekommen, die er verdient.

Paulus zeigt an anderen Stellen, wie sehr ihm die Angriffe zu schaffen machen, wie sie ihn kränken. Er hat sein Bestes gegeben. Nun wird er einfach fallen gelassen. Leute, für die er sich eingesetzt hat, sagen jetzt: „Paulus? – das ist doch das Letzte! Hört nicht auf den!“ Das tut weh. Wir brauchen Bestätigung. Wir lechzen nach Anerkennung. Keiner steht einfach über aller Kritik. Paulus weiß das. Sie verurteilen seine Arbeit, seine Person, seinen Glauben. Wie kann er den Druck aushalten?

Gerade, weil er so grundsätzlich infrage gestellt ist, besinnt Paulus sich auf die Grundlage, die Mitte seines Lebens. Er sagt: „Euer Urteil bedeutet mir nicht viel. Kein Mensch kann das Herz eines anderen beurteilen. Ja, nicht einmal mein eigenes Urteil über mich selbst zählt. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Jesus ist mein Richter. Er wird das Trachten des Herzens offenbar machen. Und Jesus hat ja schon für mich entschieden.“

Niemand kann einem anderen ins Herz sehen. Wir haben einen äußerlichen Eindruck. Jemand ist uns sympathisch oder nicht. Jemand kann sich gut verkaufen oder nicht. Aber wie der andere wirklich ist, wie er es meint, was ihn tief bewegt, was er glaubt, davon wissen wir fast nichts. Selbst bei einem Menschen, den wir lieb haben und schon lange kennen, wissen wir oft nicht die tiefsten Beweggründe. Niemand kann einem anderen ins Herz sehen. Als Lehrer muss ich manchmal Noten geben. Es ist furchtbar schwer, den Schülern gerecht zu werden. Im übertragenen Sinn verteilen wir oft Noten, bewerten Leute, werten sie ab, lassen sie sozusagen bei uns durchfallen. Paulus macht sich unabhängig vom Urteil der Leute in Korinth. Er will sich nicht angreifen lassen. Es tut weh, dass sie ihn so falsch verstehen, aber ihr Urteil ist nicht entscheidend.

Paulus ist ein guter Psychologe, wenn er sagt: „auch ich selbst richte mich nicht“. Wir selbst sind unsere strengsten Richter. Die Opfer von Mobbing beginnen, an sich selbst zu zweifeln und denken, sie machen alles falsch. Wir können uns nicht selbst richten. Bei großen Entscheidungen fragen wir uns: Ist das wirklich das Richtige für mich? Entspricht es mir? Kann ich in diesem Beruf meine Gaben entfalten? Will ich konfirmiert werden und mich zu diesem Glauben bekennen? Kann ich mich für diesen Menschen entscheiden? Wir fragen nach uns selbst und stellen fest: Auch in mein eigenes Herz kann ich nicht hineinsehen. Die Entscheidung ist, auch im Blick auf mich selbst, ein Weg ins Unbekannte. Vielleicht kann ich später dankbar sehen, dass sie richtig war. Vielleicht muss ich auch erkennen: Ich habe mich falsch entschieden. Ich konnte nicht durchhalten, was ich mir vorgenommen habe. Ich habe mich getäuscht und bin gescheitert. Was ist, wenn ich falsch entschieden habe und auch schuldig geworden bin? Steht dann unter meinem Leben: Note 5, durchgefallen?

Paulus meint: „Nicht einmal ich selbst maße mir ein Urteil über mich an. … Entscheidend ist das Urteil, das der Herr über mich spricht.“ Wir sagen es im Glaubensbekenntnis: Jesus wird kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Davor hat Paulus keine Angst, im Gegenteil. Jesus sitzt ja auf dem Richterstuhl. Der Richter selbst trägt die ganze Last der Schuld und spricht uns frei. „Er wird alles Verborgene ans Licht bringen, alles, was jetzt noch im Dunkeln liegt, und wird die geheimsten Gedanken der Menschen aufdecken. Dann wird jeder von Gott die Anerkennung bekommen, die er verdient.“

Paulus hat keine Angst vor dem Licht: Wir werden sehen, wie wir sind, und wie Gott uns schon immer gemeint hat. Wir werden schauen, was wir geglaubt haben. Wir werden erkennen, wie wir erkannt sind, wie sehr Gott uns liebt. Vielleicht haben wir in manchen Bereichen eine 5 verdient, und trotzdem hat Jesus schon längst entschieden, dass wir bei ihm niemals durchfallen. Weil Jesus uns beurteilt und nicht die anderen und nicht ich selbst, darum ist das Gericht kein Schrecken. Und weil wir wissen: Gott hat sich schon für uns entschieden, darum sind unsere großen und kleinen Entscheidungen nicht mehr so schwer.

Wir werden nicht allen Anforderungen gerecht, aber wir sind Gott recht – das allein zählt. Paulus kann trotz aller Angriffe, selbstbewusst sagen: Ich bin ein Diener Christi, ein Verwalter der Geheimnisse Gottes. Jesus hat mir Großes anvertraut. Er allein kann beurteilen, ob ich treu bin. Er allein sieht in mein Herz.

Ganz nah ist uns Jesus. Im Advent feiern wir seine Nähe. Er kommt mit seiner Klarheit, seinem Licht. Er kommt, der sich für uns entschieden hat. Wir sind frei von all den Erwartungen und Urteilen der anderen. Wir sind auch frei, dass wir selbst niemanden verurteilen müssen, nicht einmal uns selbst.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

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