5.Mose 6,4-9

Predigt am 22.Juni 2014 von Pfarrerin Birgit Otto über 5.Mose 6,4-9

Liebe Gemeinde!

Jetzt hör endlich mal! – Wer Kinder hat, der kennt diesen Befehl nur zu gut. Wenn wir Eltern das zu oft sagen, ist das Weghören vorprogrammiert. Es zeigt unsere elterliche Anspruchshaltung. Ich habe etwas zu sagen – du hörst zu! Hör mir endlich zu! – Wer einen Partner hat, der kennt diesen Befehl nur zu gut. Er zeigt, dass man sich unverstanden fühlt, sich ausdrücken möchte. Eine Vorwurfshaltung. „Höre Israel!“ so beginnt das Grundbekenntnis Israels, das an jedem Samstag zum Sabbat gesungen wird. „Höre …!“ Anspruchshaltung? Vorwurfshaltung? NEIN. Das Wort öffnet einen Raum, es schiebt anderes Laute beiseite, schafft Platz. „Höre …!“ Das Grundbekenntnis Israels beginnt mit einem „Höre …!“ ganz anderer Art. Es will durch den Lärm der Welt hindurchdringen, es will den Lärm der Welt zum Schweigen bringen. Unser Leben ist ja immer von Geräuschen umgeben. Das kennen wir aus der Stadt. Das kennen wir, die wir Kinder im Haus haben. Ganz unterschiedliche Klänge, Töne und Geräusche mischen sich ein. Ich nenne wahllos einige Hör-Eindrücke aus meinem Alltag: morgens das Piepsen eines Weckers, das Geräusch des Wasserkochers, Motorenlärm von Nachbarautos, Schulkinder auf den Gängen meiner Schule, das Klingeln von Mobiltelefonen, eine Baustelle auf dem Nachbargrundstück.

Durch alle diese Geräusche hindurch möchte das Grundbekenntnis Israels zu uns dringen. Wie gut, dass wir heute Morgen hier in der Kirche sind. Da ist es leiser, da geht das leichter. Kein Kinderlärm, hoffentlich kein Mobiltelefon. Doch: Das „Höre …!“ will nicht nur den Lärm um uns herum durchdringen, sondern auch den Lärm in uns drinnen. Und gerade in diesem Moment, in der Kirchenbank, in einem Augenblick, in dem wir zur Ruhe kommen, wird es mitunter laut in uns. Sorgen mischen sich ein, die uns bedrängen. Auch Probleme, die wir momentan nicht lösen können. Ansprüche, die andere an uns stellen oder wir selbst. Wir sind unsicher, ob wir sie erfüllen können. Wir setzen uns unter Druck, in der Schule, im Büro, in der Familie. Ältere merken, dass ihnen manches nicht mehr so leicht fällt wie früher. Auch diesen Lärm in uns drinnen möchte das „Höre …!“ zum Schweigen bringen: Schieb jetzt alles zur Seite, für den Moment ist es nicht wichtig! Schaffe Platz: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!“

Der Herr allein ist Gott! Kein anderer sonst, das hieß für das alte Israel: nicht Baal, der Wettergott von Phönizien! Nicht Hadad, der Sturmgott von Syrien! Nicht Kemosch, der Staatsgott von Moab! Sie alle sind nicht Gott! Voller Spott heißt es in Psalm 115: „Sie sind nichts weiter als Silber und Gold – ein Werk, von Menschenhand gemacht: Sie haben einen Mund, aber sie können nicht reden. Sie haben Augen, aber sie können nicht sehen. Sie haben Ohren, aber sie hören nichts. Und gar kein Lebensatem ist in ihrem Mund.“ Wir hören die Spitze des Psalms: Diese Götter sind nicht lebendig. Zu ihnen gibt es keine echte Beziehung, sie haben kein offenes Ohr für die Wünsche und Sorgen der Menschen. In dieser Weise werden also die Erfolgs- und Zuständigkeitsgötter entmachtet, die für das Wetter, für den Krieg, für das Wohlergehen des Staates sorgen sollen. Der Herr ist Gott allein, kein anderer sonst! Wir sind nun wie das biblische Israel nicht gefährdet, an Baal, Jupiter oder die Astarte zu glauben. Aber Luther formulierte: „An was du dein Herz hängst, das ist dein Gott!“ Es ist schon so, dass bestimmte Dinge in unserem Leben umfassende Macht gewinnen können, göttliche Macht beanspruchen, sich zu kleinen oder größeren Göttern auswachsen: Ehrgeiz, Besitz, Familie, Geld, Bildung, Macht, Liebe und anderes mehr. Sie versprechen uns ein angenehmes Leben, ja ein erfülltes Leben. Glücksgötter, an denen wir hängen. Wir fixieren uns auf diese Dinge. Wir richten einen Großteil unseres Lebens darauf aus. Wir merken nicht, wie sie mehr und mehr Besitz von uns ergreifen. Selten spüren wir das Dämonische, das auch in ihnen steckt: die Mächte, die uns binden wollen und knechten und einengen. Wenn der Rücken wehtut. Wenn die Erschöpfung zunimmt. „Höre …!“ Da ist es wieder, dieses „Höre …!“, das unsere kleinen und größeren Götter zur Seite schiebt: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!“ Er rückt die Dinge an ihren Platz. An einen nachrangigen Platz. Wenn wir ihn denn lassen. Erstaunlich ist, dass das Gebot der Gottesliebe in einer Zeit aufgeschrieben wird, als Israels Gottesbeziehung an einem Tiefpunkt angelangt ist. Die Babylonier haben Jerusalem erobert, den Tempel zerstört, das Land verwüstet und Viele aus der Heimat vertrieben. Israel ist am Boden. Und jetzt macht Israel ernst mit seinem Bekenntnis zu Gott. Er allein ist die Wirklichkeit, die ALLES umfasst: nicht nur das Gelingen, sondern auch das Scheitern, nicht nur das Lieben, sondern auch das Bangen, nicht nur das Leben, sondern auch den Tod. Und jetzt beginnt Israel – in einer Situation der Schwäche und Depression –, seine Gottesbeziehung zu intensivieren, sein Grundbekenntnis mit dem Gebot der Gottesliebe zu verbinden. Das ist das Erstaunliche. Und ich glaube, dahinter steckt die schier unglaubliche Erfahrung Israels: Gott lässt sein Volk auch im Schlimmsten nicht los!

Und wie geht das nun: „Gott lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft“? Kann ich das auch? Und habe ich nicht schon zu viel um die Ohren, dass ich auch noch Gott meine ganze Aufmerksamkeit schenken könnte? – Da lärmt er wieder, der überforderte Mensch in mir. Doch bei der Gottesliebe geht es nicht um die Frage, ob ich neben den vielen Dingen meines Lebens auch noch ein ausreichendes Plätzchen für Gott übrig habe. Gottesliebe ist nicht eine Frage des Terminkalenders, in den ich eintrage „von 10-12 Uhr: Zeit, um Gott lieb zu haben“. Gottesliebe geht anders, sie ist eine Lebenshaltung, eine innere Bewegung meines Herzens. Auf Gottes Wort hören und jeden Morgen von Neuem mit dem Vertrauen beginnen: Gott ist bei mir und an meiner Seite. – Das ist schon viel! Das Gebot der Gottesliebe bedeutet nun aber nicht, dass ich nur Gott allein lieben darf und außer ihm nichts Anderes sonst. Gott lässt sich nicht gegen die Welt ausspielen. Wir dürfen lieben, bis hin zur Leidenschaft: Freunde, Familie, Kunst, Natur, Geselligkeit, ja sogar auch „Geld und Gut“. Aber eben so und nur so, dass wir uns von Gott zu dieser Liebe bewegen lassen. Und so, dass sich aus unserer Liebe und Leidenschaft nicht wieder andere Götter herausbilden, kleine und größere Dämonen, die uns beherrschen und binden. Das will Tag für Tag eingeübt werden: Gottes Wirklichkeit wahrnehmen mitten im Leben. Das biblische Israel hat dafür Merkzeichen entwickelt, Erinnerungszeichen. Und die gibt es im Judentum bis heute. Wenn es in unserem Predigttext heißt: „Und diese Worte … sollst du zu Herzen nehmen“ ist damit zunächst ein Kettenanhänger gemeint, der die Worte enthält: „Höre, Israel!“ bzw. hebräisch: „Schema Israel!“ Dieses Amulett wird auf dem Herzen getragen. So rückt man das Bekenntnis ganz nah an das Herz, an unser Wollen und Verstehen. Und wenn es weiter heißt: „Du sollst diese Worte binden zum Zeichen auf deine Hand … und zwischen deine Augen“ sind damit die jüdischen Gebetsriemen gemeint, die „Tefillin“. Diese werden zum täglichen Morgengebet um den linken Arm gebunden und um die Stirn gelegt. An den Lederriemen sind kleine Kapseln befestigt, in denen auf ein Stück Pergament das „Höre Israel!“ geschrieben ist. Und wenn einer heute in ein jüdisches Haus geht oder es verlässt, dann berührt er mit seiner Hand einen kleinen Behälter, der am Türrahmen befestigt ist. Der heißt „Mesusa“ und enthält ebenfalls das „Schema Israel!“ Und wie ist das in unserem Alltag? Besitzen auch wir Christen solche Merkzeichen und Erinnerungszeichen? Das Kreuz an der Kette oder an der Wand – früher so selbstverständlich. Die Ikone an der Wand. Oder – wie ich kürzlich bei einem Besuch sah – die aufgeschlagene Bibel auf einem extra Tisch im Wohnzimmer, 2 Kerzen daneben. So durchzieht das „Höre Israel! Höre du!“ den Alltag und erinnert täglich an den, der alles umfasst: unser Tun und Lassen, unser Lieben und Bangen, unser Leben und Sterben. Gott – und kein Anderer sonst! Amen.