Predigt am 3.2.19 von Andreas Hansen über Hes 34,1-4.7-16.31
Hesekiel 34,1-4.7-16.31
Und das Wort des HERRN erging an mich: Du Mensch, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen, zu den Hirten: So spricht Gott, der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! Sollten die Hirten nicht die Schafe weiden? Das Fett esst ihr und mit der Wolle bekleidet ihr euch und die fetten Schafe schlachtet ihr – ihr weidet die Schafe nicht! Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt, und was krank war, habt ihr nicht geheilt, und was gebrochen war, habt ihr nicht verbunden, und was versprengt war, habt ihr nicht zurückgeholt, und was verloren gegangen war, habt ihr nicht gesucht …
Darum, Hirten, hört das Wort des HERRN! So wahr ich lebe, Spruch Gottes, des HERRN, weil meine Schafe zur Beute und meine Schafe zum Fraß geworden sind für alle Tiere des Feldes, ohne Hirt, und meine Hirten nicht nach meinen Schafen gefragt haben und die Hirten sich selbst geweidet und meine Schafe nicht geweidet haben, darum, Hirten, hört das Wort des HERRN! So spricht Gott, der HERR: Seht, ich gehe gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe aus ihrer Hand und sorge dafür, dass sie keine Schafe mehr weiden, und auch sich selbst werden die Hirten nicht mehr weiden. Und ich werde meine Schafe vor ihrem Rachen retten, und sie werden ihnen nicht zum Fraß werden.
Denn so spricht Gott, der HERR: Seht, ich selbst, ich werde nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert am Tag, da er inmitten seiner Schafe ist, die aufgeteilt worden sind, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und sie retten aus allen Orten, wohin sie zerstreut worden sind am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels. Und ich werde sie herausführen aus den Völkern und sie sammeln aus den Ländern, und ich werde sie auf ihren Boden bringen, und auf den Bergen Israels, an den Flussbetten und an allen Wohnorten im Land werde ich sie weiden. Auf guter Weide werde ich sie weiden, und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein; dort werden sie auf gutem Weideplatz lagern, und auf fetter Weide werden sie weiden auf den Bergen Israels. Ich selbst werde meine Schafe weiden, und ich selbst werde sie lagern lassen! Spruch Gottes, des HERRN. Was verloren gegangen ist, werde ich suchen, und was versprengt worden ist, werde ich zurückholen, und was gebrochen ist, werde ich verbinden, und was krank ist, werde ich stärken.
Und ihr, meine Schafe, die Schafe meiner Weide, ihr seid Menschen; ich bin euer Gott. Spruch des HERRN.
„Großmutter, warum hast du einen so großen Mund? – Damit ich dich besser fressen kann!“
Das liebliche Bild vom Hirten ist vielleicht nur ein Märchen. Es hat einen Riss. Die Könige nennen sich Hirten. „Ich behüte und leite euch“, sagen sie, aber sie fressen ihr Volk auf. „Wehe den Hirten, die sich selbst geweidet haben!“
So stellen wir uns einen rechten Propheten vor. So möchten wir manchmal selbst losdonnern: „Wehe über verantwortungslose Politiker! Wehe über korrupte Machthaber, die sich auf Kosten ihres Volkes bereichern! Wehe den Diktatoren, die über Leichen gehen!“ Wir denken z.B. an Maduro in Venezuela – in dem reichen Land hungern die Menschen, oder an die ewigen Staatschefs in Afrika, die ihre Länder ausbeuten. Uns fallen beängstigend viele Wölfe im Hirtenkleid ein.
Kurz nach dem Zusammenbruch redet der Prophet Hesekiel von den Hirten Israels. Das Land ist von Feinden besetzt, der Staat zerstört, der Tempel vernichtet. Viele, auch der Prophet selbst, sind vertrieben und verbannt. Nichts funktioniert. Heute sprechen wir von failed states, gescheiterten, chaotischen Staaten. Die Hirten haben versagt. Sie haben ihr Volk in den Abgrund geführt. Wie gut, dass Hesekiel ihnen ordentlich Bescheid gibt, nicht wahr?
Aber dann, ganz am Ende, kommt eine überraschende Wendung: „Und ihr, meine Schafe, die Schafe meiner Weide, ihr seid Menschen; ich bin euer Gott.“
Was sind wir: Schafe oder doch keine Schafe? Warum betont er: Ihr seid Menschen? Wir sind Hirten und Schafe zugleich. Ja, auch wir sind Hirten!
Ihr seid Menschen, Menschen unter Mitmenschen, Menschen, die Verantwortung tragen, Menschen vor Gott.
An vielen Stellen sind wir Hirtin und Hirte. Am Arbeitsplatz müssen wir in unserem Bereich Verantwortung tragen, jede und jeder an ihrem und seinem Platz. Menschen sind uns anvertraut, unsere Partner, unsere Kinder, Freunde, Kollegen. Wir müssen entscheiden, in welche Schule unser Kind geht. Wir müssen für unsere Familie sorgen oder für andere. Wir müssen Konflikte und schwierige Mitmenschen ertragen. Wir stehen manchmal vor großen Entscheidungen für andere: Muss ich diesen Angestellten entlassen? Kann ich mich für diesen Menschen entscheiden? Sollen wir die Therapie eines schwer Kranken oder Sterbenden beenden? Ich bin eigentlich froh, dass ich nicht so große Entscheidungen treffen muss wie die Politiker. Wir wollen Menschen gerecht werden. Aber das gelingt uns nicht immer. Oft handeln und entscheiden wir egoistisch. Leicht missbrauchen wir die Macht des Hirten.
„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ fragte Kain. Er wollte nicht sehen, was er angerichtet hatte. Er hatte seinen Bruder nicht behütet, im Gegenteil.
Hesekiel spricht nach dem Versagen der Hirten. Er schont sie nicht. Er beschönigt nichts. Aber passen wir auf: Immer wenn wir mit einem Finger auf andere zeigen, zeigen drei Finger unserer Hand auf uns selbst.
Gott sei Dank, Hesekiel sagt noch mehr: „Denn so spricht Gott, der HERR: Seht, ich selbst, ich werde nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Ich selbst werde meine Schafe weiden!“
Gott selbst ist Hirte. Er sucht das Verlorene. Er heilt das Verwundete. Das zerrissene und befleckte Bild des Hirten bekommt eine neue Bedeutung. Gott ist der gute, der wahre Hirte. Hesekiel tröstet das verirrte, geschlagene Volk. Gott selbst will sie suchen und aus allen Völkern zurück in ihr Land führen. Gott sieht die Not und verspricht einen neuen Anfang, einen Weg aus dem finsteren Tal. Gott sieht das Versagen von uns großen und kleinen Hirten, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden und die vor allem an den eigenen Vorteil denken. Gott kommt seinem Volk entgegen als der gute Hirte. Er sucht die Verlorenen. Gott kommt uns entgegen.
Wir sind Hirten und wir sind Schafe. Ja, wir sind, in dem Bild gesprochen, auch Schafe. Andere müssen für uns entscheiden, für uns da sein, uns beschützen. Wir brauchen andere, denen wir uns anvertrauen. Wir brauchen Hirten, die uns behüten, die uns suchen, wenn wir verloren gehen, Hirten, die nicht ohne uns einfach weiter gehen. Tief enttäuscht sind wir, wenn unser Vertrauen verletzt wird. Natürlich gibt es Hirten, die versagen, Politiker, Ärzte, Eltern, Lehrer. Es gibt angebliche Hirten, die nur sich selbst weiden. Und es gibt Menschen, die verloren gehen und einfach vergessen werden.
Schiffbrüchige müssen wochenlang vor der Küste warten, bis sie an Land dürfen. Menschen in unserer Nachbarschaft verlieren alle Kontakte und vereinsamen. Ein Jugendamt übersieht oder verharmlost die Gefahr, der Kinder ausgesetzt sind. Beispiele für Menschen, die verloren gehen, Lebenswege, die zum Verzweifeln sind.
Viele fragen, wie in den Psalmen: „Wo bist du, Gott? Verbirg dich doch nicht! Komm zur Hilfe!“
Hesekiel sagt: Gott gibt keinen Menschen verloren. Gott vergisst keinen Menschen. Kein Mensch, keiner von den vielen Opfern, deren Zahlen wir in den Nachrichten hören, keiner, dessen Leid oder Tod uns ganz nahe geht, keiner ist Gott gleichgültig. Es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht lieb hat, der ihm nicht am Herzen liegt.
In der Stunde Null, als alles zum Verzweifeln verloren und kaputt ist, da sagt Hesekiel seinem Volk: Gott ist unser Hirte. Er gibt uns nicht verloren. Er lässt uns nicht einfach im Stich. Wir glauben, dass Gott in Jesus Christus die Verlorenen sucht und rettet. Am Kreuz hat er selbst die tiefste Verlorenheit und Verzweiflung auf sich genommen. Wir sehen auf ihn und finden Trost im Leben und im Sterben.
Schon damals, 600 Jahre vor Jesus, lässt Gott seinem Volk sagen: Ich bin euer Hirte. Ich lasse euch nicht los. Ich gebe euch nicht verloren. „Ihr, meine Schafe, die Schafe meiner Weide, ihr seid Menschen; ich bin euer Gott.“
Gott hat einen Bund geschlossen mit seinem Volk. Er hat ihnen fest versprochen: „Ich bin euer Gott.“
Dies Versprechen bleibt und gilt auch uns: „Ich bin euer Gott.“
Vertrauen wir uns ihm an, ihm, dem guten Hirten!
Versuchen wir selbst an unserem Ort gute Hirten zu sein, unseres Mitmenschen Hüterin und Hüter!
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen