Römer 11,25-36

Predigt am 24.8.14 von Andreas Hansen über Röm 11,25-36

Israelsonntag

Liebe Gemeinde, eine zentnerschwere Last hat Paulus bedrückt. Er ist traurig um sein Volk, Israel, die Juden. Die meisten von ihnen glauben nicht an Jesus. Das Evangelium, die frohe Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus Christus – für Israel bleibt sie verschlossen. „Wie kann das sein? Sie sind doch Gottes Volk. Sind sie ausgeschlossen von Gottes Liebe? Sind sie verworfen?“ Diese Fragen gehen Paulus nahe und zerreißen ihn schier. Einerseits fühlt er sich dem Volk Gottes tief verbunden. Er ist geprägt vom Glauben und der Frömmigkeit Israels. Mit ganzem Eifer wollte und will er tun, was Gott entspricht – so wie jeder fromme Jude. Andrerseits glaubt er an Jesus Christus. Jesus hat keinen neuen oder anderen Gott verkündigt. Sein lieber Vater im Himmel ist der Gott Israels. Treu bis zum Tod hat er getan, was Gott entspricht. Paulus liebt sein Volk Israel und hängt an ihm, genauso wie er seinen Herrn Jesus Christus liebt und an ihm hängt. So leidet Paulus daran, dass Jesus von den meisten Juden abgelehnt wird. Paulus schreibt an die Gemeinde in Rom. Dort leben vor allem Heidenchristen, Christen, die nicht vorher Juden sind. Ihnen könnte das Verhältnis zu Israel doch gleichgültig sein. Warum schreibt Paulus drei Kapitel seines Briefes darüber? Weil das Verhältnis zu Israel mehr ist, als seine persönliche Herzenssache. Weil die Kirche aus der Verheißung lebt, die zuerst an Israel ergangen ist. Israel bleibt das auserwählte Volk Gottes. Sie sagen Nein zu Jesus und gehören doch zu dem Gott, den Jesus verkündete und an den auch wir glauben.

Wir Christen haben eine ganz besondere Beziehung zu Israel und zu seinem Glauben. Keine andere Religion ist auch nur annähernd so wichtig für uns wie das Judentum. Unsere Kirche bekennt heute, wie sehr wir dem Volk Gottes verbunden sind, wie wir uns gar nicht ohne sie verstehen können. Viele Jahrhunderte lang war es anders. Christen waren überzeugt, sie seien nun das Volk Gottes und Israel sei verworfen. Ein sprechendes Zeugnis für diese Haltung sind die Darstellungen von Kirche und Synagoge am Straßburger Münster: Die Figur, die die Kirche darstellt, steht da mit erhobenem, gekrönten Haupt und Siegesfahne. Die Figur für das Judentum hat ein gebeugtes Haupt, keine Krone, nur eine zerbrochene Lanze. Ihre Augen sind verbunden. Sie ist blind. Lange Zeit, bis in die jüngste Vergangenheit, haben Christen ihr Verhältnis zu Israel nach diesem Schema beschrieben: Israel sei nicht mehr das Volk Gottes, weil es Jesus ablehne. Die Kirche sei das wahre Volk Gottes, das Christentum die überlegene Religion. Schrecklich und bis heute beschämend sind die Folgen dieser Haltung: von antijüdischer Stimmung bis zu Pogromen und millionen-fachem Mord im Namen unseres Volkes. Lange Zeit waren wir Christen blind. Das ist unsere Geschichte – darum sage ich „wir“. Die Grundordnung unserer Kirche spricht von der Schuld der Christenheit am Leiden des jüdischen Volkes. Wir haben nicht sehen wollen, wie wir zu Hass und Gewalt beitragen. Heute erschrecken wir darüber und schämen uns. Lange Zeit haben wir unseren Paulus einfach nicht gelesen oder waren blind und taub für das, was er schreibt.

Eine zentnerschwere Last hat Paulus bedrückt. Aber größer als seine Sorge ist doch seine Hoffnung für das Volk Gottes. Paulus wünscht sich nichts sehnlicher, als dass alle Menschen, auch seine jüdischen Schwestern und Brüder, Christus erkennen. Aber nun kann er akzeptieren, dass sie auf ihrem eigenen Weg zu Gott finden. Paulus nennt das Nein Israels zu Jesus Verstockung oder Verhärtung. Aber die Juden lehnen Jesus nicht aus Böswilligkeit oder Sturheit ab. Sie sind auf ihre Weise treu gegenüber Gott. Und Gott erbarmt sich ihrer. Größer als unser Nein ist Gottes Ja. Größer als alle Feindschaft, aller Hass, ist Gottes Liebe. Alle schließt Gott in sein Erbarmen ein. Und alle sind wir auf Gottes Erbarmen angewiesen, Juden wie Christen. Paulus schreibt von einem Geheimnis, einem Mysterion, das sich erst am Ende aller Tage ganz klären wird. Im Gebet hat Gott ihm aber schon jetzt eine Gewissheit geschenkt, die ihn froh macht: Was Gott versprochen hat, wird er halten. Die Gaben und die Berufung, die Gott Israel gegeben hat, nimmt er nicht zurück. Gottes Liebe gilt seinem Volk, auch wenn sie Jesus ablehnen. Die Juden bleiben das Volk, mit dem Gott seinen Bund geschlossen hat, dem er treu ist.

Der große jüdische Philosoph und Theologe Martin Buber führte 1933 ein Gespräch mit einem evangelischen Theologen. Er beschreibt den Bund Gottes mit seinem Volk beim Blick auf den ältesten jüdischen Friedhof Europas mit fast tausend Jahre alten Gräbern: „Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofsgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quäntchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche unter den Steinen, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. Man hat die Leiblichkeit der Menschen, die dazu geworden sind. Man hat sie. Ich habe sie. Ich habe sie nicht als Leiblichkeit im Raum dieses Planeten, aber als Leiblichkeit meiner eigenen Erinnerung bis in die Tiefe der Geschichte, bis an den Sinai hin. Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottes-raumes nicht abbringen. Nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. Ich habe dagestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt, wie diese Steine. Aber aufgekündigt ist mir nicht. Der Dom ist, wie er ist. Der Friedhof ist, wie er ist. Aber gekündigt ist uns nicht worden.“

Kirche und Synagoge stehen nebeneinander, nicht Sieger und Besiegte, nicht eine besser oder mehr im Recht, unterschiedlich, aber beide geliebte Kinder des einen Vaters. Die Liebe des Vaters ist viel größer als die Kinder verstehen. Er lässt beide ihre eigenen Wege gehen. Er freut sich, wenn sie von falschen Wegen umkehren. Geduldig und treu lässt er sich nicht in seiner Liebe beirren. Die zentnerschwere Last ist Paulus abgenommen. Über unseren verworrenen Wegen, über unserer Geschichte von Leid und Verletzung und Schuld, über allem steht Gottes Erbarmen. Juden und Christen stehen miteinander vor Gott. Beide bedürfen wir der Barmherzigkeit Gottes. Beide sind wir Gottes geliebte Kinder. So münden die Gedanken des Paulus in einem Lobgebet. „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen und unerforschlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas geliehen und es müsste ihm von Gott zurückgegeben werden? (Jes 40, 13) Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist alles. Ihm sei Ehre in Ewigkeit, Amen.“