Predigt von Pfarrer i.R. Hanns-Heinrich Schneider am 10.1.16 über Römer 12,1-8

Brüder und Schwestern, weil Gott so viel Erbarmen mit euch gehabt hat, bitte und ermahne ich euch: Stellt euer ganzes Leben Gott zur Verfügung! Bringt euch Gott als lebendiges Opfer dar, ein Opfer völliger Hingabe, an dem er Freude hat. Das ist für euch der »vernunftgemäße« Gottesdienst. Passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an. Lasst euch vielmehr von Gott umwandeln, damit euer ganzes Denken erneuert wird. Dann könnt ihr euch ein sicheres Urteil bilden, welches Verhalten dem Willen Gottes entspricht, und wisst in jedem einzelnen Fall, was gut und gottgefällig und vollkommen ist. In der Vollmacht, die Gott mir als Apostel gegeben hat, wende ich mich an jeden Einzelnen von euch. Niemand soll sich über andere erheben und höher von sich denken, als es angemessen ist. Bleibt bescheiden und sucht das rechte Maß! Durch den Glauben hat jeder von euch seinen besonderen Anteil an den Gnadengaben bekommen. Daran hat jeder den Maßstab, nach dem er sich einschätzen soll. Denkt an den menschlichen Leib: Er bildet ein lebendiges Ganzes und hat doch viele Teile, und jeder Teil hat seine besondere Funktion.
So ist es auch mit uns: Als Menschen, die zu Christus gehören, bilden wir alle ein unteilbares Ganzes; aber als Einzelne stehen wir zueinander wie Teile mit ihrer besonderen Funktion. Wir haben ganz verschiedene Gaben, so wie Gott sie uns in seiner Gnade zugeteilt hat. Einige sind befähigt, Weisungen für die Gemeinde von Gott zu empfangen; was sie sagen, muss dem gemeinsamen Bekenntnis entsprechen. Andere sind befähigt, praktische Aufgaben in der Gemeinde zu übernehmen; sie sollen sich treu diesen Aufgaben widmen. Wer die Gabe hat, als Lehrer die Gemeinde zu unterweisen, gebrauche sie. Wer die Gabe hat, andere zu ermahnen und zu ermutigen, nutze sie. Wer Bedürftige unterstützt, soll sich dabei nicht in Szene setzen. Wer in der Gemeinde eine Verantwortung übernimmt, soll mit Hingabe bei der Sache sein. Wer sich um Notleidende kümmert, soll es nicht mit saurer Miene tun.

Liebe Gemeinde!

Seit rund zweitausend Jahren hören wir diese gewaltigen Worte des Paulus: „Bringt euch Gott als lebendiges Opfer dar … passt euch nicht den Maßstäben dieser Welt an … Durch den Glauben hat jeder von Euch seinen besonderen Anteil an den Gnadengaben bekommen, … daran hat jeder den Maßstab … Denkt an den menschlichen Leib: Er bildet ein lebendiges Ganzes und hat … seine besondere Funktion…“ Und nun zählt Paulus auf, wozu wir alle – als Christen – befähigt sind, wenn und weil wir unseren Glauben an Christus leben. Doch schauen wir uns einmal um, wo finden wir sie, diese Christen? Schauen wir einmal in unsere Gesellschaft hinein, die sich ja so gern – gerade auch angesichts der derzeitigen Flüchtlingsströme – auf die Werte beruft, die sich im „christlichen Abendland“ gründen. Wo finden wir sie?

Ist es denn nicht umgekehrt gerade so, wie es J.P. Sartre beschreibt: Sartre hatte sich vorgenommen, sein Leben lang zu lernen, als Atheist zu leben. In seinem düsteren Drama „Bei verschlossenen Türen“ schreibt er:

Da wären wir also! Drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann treffen in einem Raum zusammen. Sie kennen sich nicht, man versucht ein Ge-spräch, aber jeder von ihnen hat andere Fragen und Bedürfnisse. Man fällt sich zur Last. Sie sind gestorben. Sie haben alle Hoffnungen begraben und warten. Und bald schon stellen sie fest: Wir sind in der Hölle. Irrtümer sind ausgeschlossen, umsonst wird keiner verdammt. Körperliche Folter gibt es keine und doch: Wir sind in der Hölle. Es kommt auch niemand – niemand. Wir allein bleiben zusammen bis ans Ende. Allerdings einer fehlt: Der Henker. Alle beobachten, wie es im Leben, das sie zurückgelassen haben, weitergeht, ohne dass sie noch einmal eingreifen könnten. Man bringt sich durch seine Andersartigkeit an den Rand, man will raus aus dem Raum und weg von den anderen, – aber die Tür ist verschlossen.

Und plötzlich ist die Tür auf! Bei dem Versuch, das Zimmer zu verlassen, scheitern sie jedoch. Der Weg ist frei, aber sie sind unzertrennlich. Sie begreifen endgültig, dass sie in der Hölle sind: Kein Schwefel, Scheiter-haufen, Bratrost ist erforderlich, denn: Die Hölle, das sind immer die anderen. Und das für immer! Das sind doch die Erfahrungen der von Männern umzingelten, bedrängten und sexuell genötigten Frauen in Köln gewesen oder Erfahrungen aller Menschen, die Unmenschlichkeit am eigenen Leib erfahren. Und so sind wir gefragt:

Wo finden wir die Gegenwart Gottes in der Welt durch einen gelebten Glauben – den Himmel auf Erden – oder umgekehrt: Wann beginnt die Hölle und wo hört sie auf? Paulus fragt seine Gemeinde nicht: Wo bilden wir ein Ganzes, wenn wir zu Christus gehören, auch wenn wir ver-schiedene Gaben mitbekommen haben. Er zögert nicht einfach festzu-stellen: So ist es und Ihr seid es, wenn und vor allem weil Ihr zu Christus gehört. Unsere Welterfahrung am Beispiel Sartres „Die Hölle, das sind immer die anderen. Und das für immer!“ und die Feststellung des Paulus stehen hart im Raum: Unversöhnlich prallen die Sichtweisen aufein-ander.

Müssten wir das Drama Sartres in unsere Gegenwart übersetzen, so bräuchten wir ja nur einige Bootsflüchtlinge an den Außengrenzen Euro-pas zu fragen oder Flüchtlinge, die aus Österreich über bayrische Grenzen – oder woher auch immer kommen – wie sie uns sehen, uns als „Christen“ in Europa leben sehen?

Wir bräuchten ja nur einmal Asylbewerber, die es nach Deutschland geschafft haben, zu fragen, wie sie Beamte in Ausländerbehörden erfah-ren, die durch den unendlichen Zustrom immer neuer Flüchtlinge über-lastet sind? Wir bräuchten ja nur einmal einige Freunde von Pegida und AfD fragen, wie sie sich auf dem Boden des Deutschen Grundgesetzes eine Willkommenskultur mit menschlichem Gesicht vorstellen, wo es doch im Grundgesetz kurz, bündig und verbindlich heißt: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Wir bräuchten ja nur einmal betroffene Polizisten zu fragen oder tausende von freiwilligen Helfern, ohne die wir das Problem gar nicht mehr lösen könnten, wie sie das alles erfahren? Ihnen allen würde es vermutlich schwerfallen, uns in den Hausforderungen des Alltags mehrheitlich als die Christen zu erleben, die an einem menschlichem Gesicht der Welt mitarbeiten.

Nun aber genug! Wir spüren hautnah, wie sehr die Beschreibung eines Christen durch Paulus von den unzähligen Fragen und Problemen allein unseres persönlichen Lebens entfernt sind, ganz zu schweigen von all den politischen Herausforderungen, vor die wir uns gestellt sehen und die nach menschlichen Antworten geradezu schreien.

Aus dem Wissen um die Welt überschreibt Karl Barth unser Römer-briefkapitel mit den Worten „Die große Störung!“ Was bedeutet der Glaube an Gott für unser Tun oder Nicht-Tun, welche Konsequenzen hat er für unser ethisches Handeln? Paulus stellt fest – und das können wir ja nur allzu gut nachvollziehen – dass ein jeder Mensch seine ganz eigenen Fähigkeiten und Begabungen hat. Er hat sie für sein Leben mit-bekommen, ohne etwas dafür zu können.
Was Eltern, Kindergarten, Schule, Lehre oder Universität tun können, ist diese Anlagen weiter auszubilden, zu vertiefen, zu Möglichkeiten werden zu lassen, die Welt nun eigenverantwortlich mit zu gestalten.

Und was ein jeder für sein eigenes, ganz persönliches Leben mit bekommen hat, das darf er nun als Christ und als Mit-Christ in seine Gemeinde einbringen und mit seiner Gemeinde in die Gesellschaft, die ihm vorgegeben ist. Gaben sind für Paulus kein Privatbesitz, sondern durch den Glauben an Gott die Aufgabe, sie für andere einzusetzen. Und das beschreibt er nun mit den unterschiedlichsten Diensten in der Gemeinde. Da geht es darum, dass einige Menschen Weisungen für die Gemeinde empfangen haben, die allerdings dem Bekenntnis ent-sprechen müssen. Niemand darf also vorgeben, etwas zu sagen zu haben, wenn es dem Glauben entgegensteht.

Es geht weiter darum, dass Menschen ganz praktische Aufgaben übernehmen sollen, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Andere sollen als Lehrer ihren Dienst versehen und wieder andere sollen darauf achten, das die Mitchristen ermahnt und ermutigt werden, wo dies notwendig ist. Und jeder, der in einer Gemeinde Verantwortung übernimmt, soll es mit Hingabe tun. Und alle, die sich um Bedürftige und Notleidende beküm-mern sollen sich weder damit in Szene setzen, noch mit Trauermine helfen wollen. Wir könnten die Aufzählung der Dienste, Aufgaben und Ämter des Paulus aus seiner Zeit nun unendlich durch all das verlängern, was es heute – nach 2000 Jahren Christentum und geprägter Kirche – in unserer Zeit und Gesellschaft zu tun gibt.

Eine Gemeinde ist so vielfältig zusammengesetzt, dass es für einen jeden, für jede in ihr seine und ihre ganz persönliche Aufgabe gibt. So haben wir uns nicht einfach den Maßstäben unserer Welt anzupassen, sondern sie durch unseren Glauben zu gestalten, weil wir zu Gott, zu Jesus Christus gehören. Erst so leben wir nicht allein unseren Willen, sondern leben das, was uns an Menschlichkeit geboten ist, einer Menschlichkeit, die sich am Liebesgebot Gottes orientiert. Da es in unserem Text ja um das Handeln des Christen geht, geht es um die Ethik. „Im Gegensatz zum Tier, das sich verhält und zu den Pflanzen, die sich entwickeln, handelt der Mensch. Er ist der Autor seiner Handlungen, mithin ist er für seine Taten auch verantwortlich.“

Wir spüren gerade hier, wie sehr der Mensch die Verantwortung dafür trägt, wie sich das Leben und Zusammenleben auf dieser einen Erde gestaltet. Kein einziger von uns kann sich dieser Mitverantwortung entziehen. Und von daher ist es so bedeutsam, aus was für einem Geist heraus wir uns einsetzen, ja Probleme wahrnehmen und sie angehen. Umweltschutz ist so kein Alleinstellungsmerkmal der Grünen. Eine am „christlichen“ Glauben orientierte Politik, keine der CDU. Wo es um die Freiheit des Menschen geht, ist nicht nur die FDP gefragt und wo soziale Fragen im Raum stehen, sind diese nicht allein der SPD zu überlassen. Das heißt, dass jeder Christ auch die politische Verantwortung dafür trägt, wie das Gesicht der Welt, seiner kleineren Umwelt, aussieht, ganz und gar unabhängig davon, welche der demokratisch-legitimierten Parteien er dann wählt.

Lange meinte man, dass Christen sich um den Glauben und Politiker sich um die Welt zu bekümmern hätten, bis man merkte, wie unsinnig das war. Schließlich sind wir als Christen mitverantwortlich für die Welt und unsere Politiker sind oft genug Christen. Unsere Welt lässt sich nicht aufteilen: Hier sind wir Kirche, als Glaubende gefragt und alles andere geht uns nichts an und dort sind wir politisch Handelnde und lassen unseren Glauben vor der Rathaustür.

Der Glaube muss uns etwas kosten, das ist die große „Störung“ Gottes! Er darf nicht – zur Privatsache erklärt – einfach und billig sein und eben das wird ja in unserem Engagement für die Welt deutlich. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass wir uns von Gott in Anspruch genom-men wissen, ein jeder von uns! Erst so leben wir dann als „Christen“ in der Welt, die sich für sie mitverantwortlich fühlen. Als „Glaubende“ handeln bedeutet dann, hinsehen, hinhören und nicht weglaufen, wo wir gefordert sind: Genau das ist das „Opfer“ von dem Paulus redet, das Opfer, mit dem wir Gott und der Welt dienen. „Die Hölle, das sind immer die anderen. Und das für immer!“, ob das stimmt, für uns, für unsere Mitmenschen hier in Kenzingen, für Flüchtlinge oder unterschiedlichste Minderheiten in Deutschland, das liegt auch an uns. Und es liegt daran, ob wir unseren Glauben an den menschenfreundlichen Gott, der Mensch wurde in Jesus Christus, nun auch wirklich menschlich leben.

In diesem Geist gehören Christen zueinander. Wir erleben unseren Glauben – recht verstanden – so, wie es Paulus mit dem Bild der Glieder eines Leibes ausdrückt: Keines wirkt da für sich allein, losgelöst von allen anderen und jedes Glied hat seine bestimmte Aufgabe und Funkti-on. Lassen wir uns genauso von Gott in den Dienst nehmen, um dem Mitmenschen eben nicht zur Hölle zu werden – so fern oder nah er uns zu sein scheint – sondern ganz und gar umgekehrt, ein wenig Himmel schon heute auf unsere Erde und in unsere Gegenwart zu bringen. Amen.