Predigt am 13.11.16 (Volkstrauertag) Römer 8,18-25

Predigt am 13.11.16 von Andreas Hansen über Röm 8,8-25

In Psalm 56 heißt es: „Zähle die Tage meiner Flucht. Sammle meine Tränen in deinen Krug. Ohne Zweifel, du zählst sie.“ Der Beter des Psalms ist überzeugt: Das Leid berührt Gott.
Heute ist Volkstrauertag.
Wir erinnern an die Millionen Opfer der Kriege.
Fast jede Familie in Deutschland, in Russland  und Polen und in vielen anderen Ländern kann erzählen vom Leid durch den zweiten Weltkrieg. Zwei Brüder meiner Mutter und der Vater meines Vaters starben. Die Familie musste fliehen.
Wenn ich meinen Schülern und Konfirmanden von Krieg erzähle, ist das für sie kaum vorstellbar. Sie sind ja schon die Urenkel der Kriegsgeneration.
Wenn wir die Nachrichten aus Aleppo oder Mossul hören, klingt das wie aus einer anderen Welt. Was dort geschieht, können wir uns nicht vorstellen. Schnell wollen wir es vergessen.
Dabei ist das Leid so nah. Für die Betroffenen ist es auch nach Jahrzehnten so wirklich und oft schmerzhaft, als wäre es gestern geschehen.
Fliegerangriffe, Verletzungen, Flucht – solche Erfahrungen vergisst man nicht – sie haben sich in die Seele eingebrannt.
Manche fragen: Soll man heute noch trauern, über 70 Jahre nach dem Krieg? Können wir betroffen sein vom Leid in fernen Ländern? Die Antwort ergibt sich fast von selbst, wenn uns heut ein Flüchtling von seinem Schicksal erzählt, so bedrückend nah. „Zähle die Tage meiner Flucht. Sammle meine Tränen in deinen Krug. Ohne Zweifel, du zählst sie.“ Gott ist betroffen von jedem Krieg. Gott lässt sich berühren vom Leid der Welt. Keines Menschen Leid ist ihm gleichgültig.
Christus am Kreuz, zerbrochen von Schmerz, das ist unser Gott. Kein Leid ist ihm fremd. Christus gibt uns zugleich die Hoffnung: Leid und Tod und Unrecht werden überwunden.

Unser Predigttext ist ein Abschnitt im Römerbrief. Paulus schreibt von einer Hoffnung, die die ganze Schöpfung ergreift. Gewalt plagt und entstellt nicht nur uns Menschen. Die ganze Schöpfung leidet unter der Gewalt. Gequälte Tiere, vergiftetes Grundwasser, der Klimawandel – so leidet die Schöpfung unter der Gewalt.  Wir sind mit allen Geschöpfen verbunden in der Sehnsucht nach Erlösung. Wir „seufzen“ wie die ganze Schöpfung.
Hören wir Römer 8,18-25, Paulus schreibt: Im Übrigen meine ich, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen, wenn wir an die Herrlichkeit denken, die Gott bald sichtbar machen und an der er uns teilhaben lassen wird. Ja, die gesamte Schöpfung wartet sehnsüchtig darauf, dass die Kinder Gottes in ihrer ganzen Herrlichkeit sichtbar werden. Denn die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, allerdings ohne etwas dafür zu können. Sie musste sich dem Willen dessen beugen, der ihr dieses Schicksal auferlegt hat. Aber damit verbunden ist eine Hoffnung: Auch sie, die Schöpfung, wird von der Last der Vergänglichkeit befreit werden und an der Freiheit teilhaben, die den Kindern Gottes mit der künftigen Herrlichkeit geschenkt wird. Wir wissen allerdings, dass die gesamte Schöpfung jetzt noch unter ihrem Zustand seufzt, als würde sie in Geburtswehen liegen. Und sogar wir, denen Gott doch bereits seinen Geist gegeben hat, den ersten Teil des künftigen Erbes, sogar wir seufzen innerlich noch, weil die volle Verwirklichung dessen noch aussteht, wozu wir als Gottes Söhne und Töchter bestimmt sind: Wir warten darauf, dass auch unser Körper erlöst wird. Unsere Errettung schließt ja diese Hoffnung mit ein. Nun ist aber eine Hoffnung, die sich bereits erfüllt hat, keine Hoffnung mehr. Denn warum sollte man auf etwas hoffen, was man schon verwirklicht sieht? Da wir also das, worauf wir hoffen, noch nicht sehen, warten wir unbeirrbar, bis es sich erfüllt.
Die ganze Schöpfung sehnt sich nach Erlösung. Jedes Leben will sich verwirklichen, will leben.
Die ganze Schöpfung hofft, dass sie frei werde von Gewalt, dass sie ihr Ziel, ihre gute Bestimmung von Gott erreicht, dass der Frieden Gottes die Welt erfülle.
Paulus sagt etwas Überraschendes: Das Sehnen der ganzen Schöpfung richtet sich auf uns, auf uns Christen. Die Schöpfung vergeht vor Sehnsucht danach, dass Gottes Kinder offenbar werden. Was wir Christen von Jesus Christus bekommen, erschließt eine Hoffnung für alle. Alle werden erkennen und sehnen sich danach, worauf wir durch Jesus hoffen: Freiheit von Leid und Schuld, ewiges Leben, Seligkeit – Paulus nennt es mit einem Wort: Herrlichkeit. Darüber kann man nur staunen. Herrlichkeit ist gewaltig, schön und so geheimnisvoll wie Gott selbst. Von Herrlichkeit singen die Engel an Weihnachten: „Ehre sei Gott in der Höhe“ – da wird das gleiche Wort, Doxa, mit Ehre übersetzt, das hier Herrlichkeit genannt wird. Gott gehört die Doxa, die Herrlichkeit, sein Glanz. Von der wunderbaren Herrlichkeit Gottes bekommen wir etwas. Sie färbt auf uns ab. Denn wir sind Gottes Kinder.
Wie eine Schwangere in Wehen hört und sieht Paulus die Schöpfung seufzen und stöhnen und gespannt warten. Sie wartet darauf, dass wir endlich als Kinder Gottes herrlich offenbar werden.
Kind Gottes, Sohn Gottes war ursprünglich ein Königstitel. Der König ist frei. Seine Söhne und Töchter sind nicht Sklaven oder Knechte.
Paulus sagt: Alle, die vom Geist Gottes erfüllt sind, tragen schon jetzt etwas von dem in sich, zu dem Gott sie bestimmt hat, freie Kinder Gottes zu sein, ohne Angst vor Leid und Tod.

Noch ist die Schöpfung gezeichnet, entstellt durch Gewalt. Gewalt bringt immer neue Gewalt hervor. Die Truppen, die auf Mossul vorrücken, entdecken Massengräber: Hunderte Menschen vom IS ermordet. In Freiburg und in Endingen wurden in den letzten Tagen junge Frauen ermordet. Solche Nachrichten erschüttern uns. Wir sehen die Macht des Todes überall in unserer Welt. Zerbrechlich ist das Leben derer, die wir lieben, und ebenso unser eigenes.
Paulus schreibt: Mit der ganzen Schöpfung gemeinsam seufzen wir und plagen uns unter dem Joch der Vergänglichkeit. Gott hat uns Christen nicht versprochen, dass  wir vom Leid verschont bleiben. Nie hat Jesus verharmlost oder nicht ernst genommen, was Menschen quält. Aber wir sehen auf Jesus am Kreuz, wir hören die Nachricht des Ostermorgens und wir hoffen für uns und für alle.

Wir hoffen, dass das Kriegsgeschrei verstummen wird – darum sind wir schon jetzt wichtig.
Wir hoffen, dass kein Leid eines Menschen, kein Leid der Schöpfung Gottes vergessen ist.
Wir hoffen, dass der Hass und die Verachtung gegenüber anderen Menschen nicht das letzte Wort behalten. Noch immer hoffen wir, dass auch Politiker, die zu Hass und Unrecht aufrufen zur Vernunft kommen oder von Vernunft in die Schranken gewiesen werden.
Wir hoffen, dass unsere eigene Schuld vergeben wird, unsere Augen und Herzen aufgehen und wir Frieden schaffen.
Noch sehen wir nicht, was wir erhoffen – es liegt noch vor uns. Aber wir hoffen und sind gewiss, dass Jesus Christus uns und aller Welt seinen Frieden bringt.
Wir hoffen und sind gewiss, dass kein Leid in der Welt Gott gleichgültig ist. „Ohne Zweifel, du zählst die Tränen.“

Wir halten den Erfahrungen von Gewalt und Leid und Tod entgegen, was wir glauben und hoffen: Die ganze Schöpfung ist in Gottes Hand. Für alle seine Geschöpfe will Gott Frieden.

Der Friede Gottes, der höher ist als unser Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen