Predigt am 19.4.19 von Andreas Hansen über Joh 19,16-30
„Ich will hier bei dir stehen. Ich sehe dein Leid. Dein Sterben macht mich hilflos, aber ich will dir nahe sein und dich nicht alleine lassen.“
Das Sterben eines geliebten Menschen sehen, Gewalt nicht aufhalten können, Sinnlosigkeit ertragen – das ist unfassbar schwer. Oft empfinde ich in der Begegnung mit Trauernden eine Scheu: Was sie bewegt, was sie verlieren, wieviel sie einander bedeuten, kann ich nur ahnen.
Unendlich schwer ist es, wenn Eltern ihr Kind verlieren, wenn ein Unfall plötzlich ein Leben beendet, wenn jemand sich selbst umbringt oder wenn gar ein Mensch durch ein Verbrechen ums Leben kommt. Immer stellt uns der Tod in Frage. Aber hart greift er uns an, wenn uns das Sterben sinnlos erscheint und wir verzweifelt nach dem Warum fragen.
Tausendfach zeigen wir den Tod in den Medien, fiktive und echte Tode – ist das ein Versuch, den Schrecken zu bannen? Sind wir, wie die Gaffer auf der Autobahn, vom Grusel fasziniert? Facebook schaffte es nicht, die vielen Kopien der Terrorvi-deos zu löschen, die in Windeseile ins Netz ge-stellt wurden. Geben wir denen keine Chance, die Gewalt verherrlichen! Wenden wir uns den Opfern zu und stehen ihnen bei, wie die Neuseeländer nach dem Massaker von Christchurch!
„Ich will hier bei dir stehen. Ich will mich neben deine Mutter und ihre Schwester stellen, neben Maria von Magdala und den Jünger, den du liebst. Warum hat er keinen Namen? Meint der Evangelist sich selbst? Oder kann ich deine Jüngerin, dein Jünger sein? Von dir geliebt, ja, aber kann ich dir folgen? Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht, lass mich bei dir und bei den Deinen sein.“
Sie sind einfach da, vier Menschen, eng mit Jesus verbunden. Sie halten es aus, die Sterbenden zu sehen, ihre Angst zu spüren, ihr Stöhnen und Schreien zu hören. Es mag der Mutter und den Freunden das Herz zerreißen, aber sie bleiben da. Es braucht Menschen, die nicht weglaufen vor dem Schrecken: Sanitäter, Ärztinnen, Polizis-tinnen, Pfleger, Seelsorger, Feuerwehrleute und viele andere. Es braucht uns als Nachbarn, Mitmenschen, Freunde, dass wir zu denen in Not gehen und bei ihnen bleiben, dass wir Angst oder auch Ekel überwinden und uns anrühren lassen vom Leid. Wir sind nötig als wache Zeitgenossen, dass wir bei denen bleiben, denen Unrecht und Gewalt geschieht.
Vier Menschen bleiben bei Jesus. Sie lassen sich nicht abhalten von denen, die ihn verspotten. Sie überwinden die Angst vor den Soldaten, die den Verurteilten die Kleider vom Leib reißen, sie an die Balken binden oder nageln und sich die Zeit mit Würfeln vertreiben, während sie auf den Tod der Gekreuzigten warten.
Vier Menschen lassen sich von dem Grauen und der unmenschlichen Gewalt nicht vertreiben. Sie bleiben stehen bei Jesus. Jesus spürt ihre Nähe und kann noch kurz vor seinem Tod mit ihnen fühlen und für sie da sein. Jesus stirbt, aber seine Liebe und Herzlichkeit sind ungebrochen. „Siehe, das ist dein Sohn. Siehe, das ist deine Mutter. Tröstet einander, passt auf einander auf, seid füreinander da.“ So sinnlos und grausam ist sein Sterben, aber Jesus bleibt sich treu. Er liebt die Seinen bis zum Schluss.
Versuchen wir, ihm zu folgen! Lassen wir uns nicht verhärten und abstumpfen von der Gewalt in unserer Welt! Antworten wir auf den Hass mit Menschlichkeit!
Johannes betont einen anderen Akzent als die ersten drei Evangelisten: Jesus bleibt er selbst. Er hängt am Kreuz: unter großen Schmerzen hilflos, ohnmächtig, nackt und verspottet. Und doch schaffen Pilatus und die Soldaten es nicht, ihn selbst, seine Person zu zerstören oder auch nur lächerlich zu machen. Sie würfeln um seinen Rock und tun damit nur, was die Schrift erfüllt. Pilatus will Jesus und alle Juden mit der Inschrift über dem Gekreuzigten verspotten und er sagt damit doch die Wahrheit über Jesus. Alle Welt kann es lesen: Jesus ist der König.
Wir wissen nicht, ob Pilatus ihn für schuldig hält – ohne mit der Wimper zu zucken geht er über Leichen. Er genießt es, die Juden zu provozieren. „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben. Basta!“ Die Priester halten Jesus für gefährlich. Sie wollen ihn loswerden: „Seht, alle Welt läuft ihm nach. Besser einer stirbt, als das ganze Volk geht unter.“ Die Soldaten fragen nicht viel. Sie machen eben, was man ihnen befiehlt. Jesus ist das Opfer eines Justizmordes.
Johannes muss das Leid des Verurteilten nicht ausmalen. Seine Gemeinde weiß, wie es ist, verfolgt zu sein. Die judenchristliche Randgruppe wird in dieser Zeit aus den Synagogen ausgeschlossen und römischen Behörden ausgeliefert. Darum schreibt Johannes so hart über „die Juden“.
Aber der Evangelist zeigt Jesus nicht einfach als wehrloses Opfer von Unrecht und Gewalt. Er beschreibt ihn fast wie einen Sieger: „Es ist vollbracht.“ Als sei er am Ziel: „Es ist vollbracht.“ Ganz und gar hat Jesus sich hingegeben. Die Liebe ist am Ziel. Sein Leben, sein Werk, ist nicht vernichtet. Die Mächtigen können sein Leben nicht für falsch und sinnlos erklären. Ihr Spott über Jesus kann vielmehr nur seine Wahrheit bestätigen: Er ist der von Gott gesandte König.
Am Kreuz wurden Menschen ausgelöscht. Aber jetzt ist das Kreuz ein Siegeszeichen.
Johannes schreibt, anders als die anderen: Jesus trägt sein Kreuz. Und schon sein Wort für „Tragen“ deutet an, dass es nicht das Ende ist. Ertragen, begreifen, austragen, wie eine Frau ein Kind austrägt – all das klingt an.
„Es ist vollbracht“, damit wir leben.
„Ich will hier bei dir stehen, verachte mich doch nicht. Ich will bei dir sein, du, mein Herr, du Weg, du Wahrheit, du Leben. Ich will bei denen sein, die du liebst und die der Liebe mehr zutrauen als der Gewalt. Sei du bei mir, heute und immer! Amen.“