Jes 58,1-12 Predigt

Predigt am 6.10.19 von Andreas Hansen über Jes 58,1-12

dreißig Jahre nach dem Mauerfall

Jesaja 58,1-12  (Zürcher Übersetzung)

Rufe aus voller Kehle, halte dich nicht zurück! Einem Schofar gleich erhebe deine Stimme, und verkünde meinem Volk sein Vergehen und dem Haus Jakob seine Sünden!
Tag für Tag suchen sie mich, und es gefällt ihnen, meine Wege zu erkennen. Wie eine Nation, die Gerechtigkeit übt und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hat, fragen sie mich nach den Satzungen der Gerechtigkeit, es gefällt ihnen, wenn Gott sich nähert.
„Warum haben wir gefastet, und du hast es nicht gesehen, haben wir uns gedemütigt, und du weißt nichts davon?“
Seht, an eurem Fastentag geht ihr anderen Dingen nach, und alle eure Arbeiter treibt ihr an. Seht, ihr fastet so, dass es zu Streit kommt und zu Zank und dass man zuschlägt mit der Faust des Unrechts. Ihr fastet heute nicht so, dass ihr eure Stimme in der Höhe zu Gehör bringt. Soll das ein Fasten sein, wie ich es will: Ein Tag, an dem der Mensch sich demütigt? Soll man seinen Kopf hängen lassen wie die Binse und sich in Sack und Asche betten? Soll man das ein Fasten nennen und einen Tag, dem HERRN wohlgefällig?
Ist nicht dies ein Fasten, wie ich es will: Ungerechte Fesseln öffnen, die Stricke der Jochstange lösen und Misshandelte freilassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht? Bedeutet es nicht, dem Hungrigen dein Brot zu brechen und dass du Arme, Obdachlose ins Haus bringst? Wenn du einen Nackten siehst, dann bedeck ihn, und deinen Brüdern sollst du dich nicht entziehen!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie das Morgenrot, und rasch wird deine Heilung gedeihen. Vor dir her zieht deine Gerechtigkeit, und deine Nachhut ist die Herrlichkeit des HERRN. Dann wirst du rufen, und der HERR wird antworten, du wirst um Hilfe rufen, und er wird sprechen: Sieh, hier bin ich! Wenn du aus deiner Mitte das Joch entfernst, das Zeigen mit dem Finger und die unrechte Rede und dem Hungrigen gewährst, was du selbst zum Leben brauchst, und satt machst den, der gedemütigt ist, dann wird dein Licht aufstrahlen in der Finsternis, und deine Dunkelheit wird sein wie der Mittag.  Und allezeit wird der HERR dich leiten, und in dürrem Land macht er dich satt, und deine Knochen macht er stark. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, deren Wasser nicht trügen.  Und die von dir abstammen, werden die uralten Trümmerstätten aufbauen, die Grundmauern vergangener Generationen wirst du aufrichten.  Und du wirst Der-die-Bresche-zumauert genannt werden, Der-Pfade-wieder-herstellt-damit-man-wohnen-kann.

Ein Todesstreifen lief quer durch unser Land und trennte es in zwei Teile. Wenn man da heute entlang geht, stößt man auf Erinnerungen an Menschen, die ermordet wurden, weil sie nicht mehr eingesperrt sein wollten. Morgen ist es 30 Jahre her, da feierte die DDR 40 Jahre ihres Bestehens, unbeirrt, als ob sie nicht schon längst überholt und am Zusammenbrechen gewesen wäre. Es wurde nicht eine Bresche zugemauert, sondern die Mauer eingerissen. Pfade wurden wieder hergestellt und vieles wieder aufgebaut. Wir konnten es kaum fassen.
„Heute sind wir das glücklichste Volk!” Wir waren völlig aus dem Häuschen vor Begeisterung. „Wahnsinn! Wahnsinn!“ schrien die Menschen, als sie einfach so über die schreckliche Grenze liefen.
So viel Hoffnung haben wir gespürt! So eine wunderbare Hoffnung auf ein friedliches und freies und gerechtes Miteinander. Natürlich wusste jeder Vernünftige, dass der Weg dorthin lang und schwer sein würde. Natürlich wissen wir, dass Frieden und Gerechtigkeit uns nicht einfach in den Schoß fallen. Aber nun hatten wir in Ost und West Hoffnung, strahlend hell und schön wie das Morgenrot.
Wir waren dankbar, dass wir das erleben durften. Viele haben vor Freude geweint. Wir haben uns beschenkt gefühlt, von Gott glücklich Beschenkte.
Kann man sagen, das war eine Gotteserfahrung? Ich glaube ja. Gott will uns begegnen, hier, ganz nah. Mitten in unserem Leben will Gott da sein. Es muss nicht etwas Geistiges, Übersinnliches geschehen, dass wir Gott spüren. Eine Mauer fällt. Die Angst ist fort. Menschen finden zueinander. Licht strahlt auf. Auf einmal öffnen sich viele neue Möglichkeiten. So ist Gott bei uns. Gottes Reich ganz nah. So hat Jesus Menschen aus ihrer Unfreiheit geholt und ihnen neues Leben geschenkt.
Der Prophet Jesaja gerät ins Schwärmen, wenn  er von der Hoffnung erzählt: Du wirst sein wie ein bewässerter Garten, eine blühende Landschaft. Du wirst stark sein. Du wirst aufbauen, was wüst und kaputt war. Deine Gerechtigkeit wird gerühmt. „Der-Pfade-wieder-herstellt-damit-man-wohnen-kann.“  So wird man dich nennen, weil andere durch dich eine Perspektive und ein Zuhause bekommen. So wunderbar öffnet Gott Wege für uns.
Vor 30 Jahren fiel die Mauer. Ihr Konfirmanden könnt euch kaum vorstellen, was für ein Staat die DDR war und warum wir damals glücklich waren. Nur ein kleines Beispiel: Viele junge Leute durften nicht lernen oder studieren, weil ihre Familie dem Staat, der Partei nicht passte. Man musste immer aufpassen, was man sagte, zB in der Schule – überall wurden die Leute bespitzelt. Es ist wichtig, dass ihr Jungen von dieser Geschichte erfahrt und dass wir alle sie nicht vergessen. Der Zauber des Neuanfangs war leider bald verblasst. Viele aus dem Westen benahmen sich im Osten wie Kolonialherren. Vielen im Osten ging es nur um die D-Mark und den Wohlstand.  Es wurde nicht gemeinsam Neues geschaffen, sondern vielfach einfach alles abgeräumt, was nach DDR roch. Es gab unnötige Verletzungen.

An die Hoffnung und Begeisterung vor 30 Jahren erinnert mich, was Jesaja sagt. Das, worüber der Prophet schimpft, passt nur teilweise zum dem, was vor 30 Jahren falsch war: Seht, an eurem Fastentag geht ihr anderen Dingen nach, und alle eure Arbeiter treibt ihr an. Seht, ihr fastet so, dass es zu Streit kommt und zu Zank und dass man zuschlägt mit der Faust des Unrechts. Habgier, Streit, Gewalt und Unrecht klagt Jesaja an. Ist nicht dies ein Fasten, wie ich es will: Ungerechte Fesseln öffnen, die Stricke der Joch-stange lösen und Misshandelte freilassen und dass ihr jedes Joch zerbrecht? Wisst ihr, was ein Joch ist? Ein Holz, das man Rindern auf den Nacken legt. Unter einem Joch ziehen sie einen schweren Karren oder einen Pflug. Menschen unter ein Joch zu binden ist unmenschlich. So wurden Leute geschunden, die ihre Schulden nicht bezahlen konnten. Nein, sagt Gott: Kein Mensch soll zerbrechen unter seiner Last. Keiner soll hungern oder obdachlos sein. Wer sich dem Mitmenschen verweigert, trennt sich von Gott.  Wer habgierig und gewalttätig ist, kann Gott nicht finden. So schimpft Jesaja. So muss er das Unrecht beim Namen nennen: erhebe deine Stimme, und verkünde meinem Volk sein Vergehen und dem Haus Jakob seine Sünden! 
In dem Menschen, der uns braucht, begegnen wir Gott oder verfehlen wir Gott. In dem Unrecht, das wir tun oder zulassen, wenden wir uns gegen Gott. Beides hängt untrennbar zusammen: Unser Verhalten zu unseren Mitmenschen und unser Verhältnis zu Gott. Wenn wir andere missachten, wenn wir Lügen verbreiten oder Gewalt üben, dann ist auch unsere Beziehung zu Gott gestört. Und umgekehrt: Wenn wir andere achten, ehrlich und hilfreich mit ihnen umgehen, geht hell wie die Sonne Hoffnung auf, und Gott ist nah. Mitten in unserem Leben will Gott da sein.
Jesus knüpft an Jesaja an: Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. … Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.                                   Gott will uns begegnen. Ich glaube nicht, dass wir Menschen von Natur aus gut und lieb sind. Von Natur aus leben wir nach dem Motto „Hauptsache mir geht´s gut.“ Wir denken nicht daran zu teilen oder auf andere Rücksicht zu nehmen. Von Natur aus sind wir Menschen Egoisten. 
Aber Gott ermutigt uns:  „Lass den Hungrigen dein Herz finden! Öffne dich für deinen Mitmenschen! Dann wird dein Licht hervorbrechen. Dann wirst du zu einem, der Pfade wieder herstellt, damit man wohnen kann.  Dann begegnest du Gott.  Du bist reich.                    Du hast ein Zuhause – nimm andere auf!  Du hast Menschen, die du liebst – sei für sie da!  Du kannst arbeiten – tu es so, dass andere Gutes dadurch erfahren!“ Es ist als ob die Sonne aufgeht,  wenn einer ohne Eigennutz für andere schafft, wenn einer verzichtet, obwohl er Macht hat, wenn einer nicht zurückschlägt, sondern Frieden stiftet. Das traut Gott uns zu. Das erwartet er von uns. Er verspricht: Dann wird dein Licht hervorbrechen wie das Morgenrot, und rasch wird deine Heilung gedeihen. Vor dir her zieht deine Gerechtigkeit, und deine Nachhut ist die Herrlich-keit des HERRN. Dann wirst du rufen, und der HERR wird antworten, du wirst um Hilfe rufen,  und er wird sprechen: Sieh, hier bin ich!

Amen