Predigt am 21.8.16 von Andreas Hansen über 1.Joh 4,-7-12
Die Gottesdienstbesucher erhalten eine Abbildung von Ernst Barlachs Skulptur, Das Wiedersehen, als Lesung aus dem Evangelium hören wir Joh 20,24-29, die Begegnung von Thomas und Jesus
Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.
Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden.
Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben.
Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.
Der Milchmann Tevje streitet mit seiner Tochter. Wie kommt sie nur auf die Idee, einen Studenten aus Kiew heiraten zu wollen? Wie kann sie sich gegen ihre Eltern wenden! Die haben ihr doch schon einen Mann ausgesucht. So ist das schon immer im Schtetl, in Anatevka. „Aber den liebe ich nicht!“ Liebe, hat man so etwas schon gehört? Tevje ist außer sich, aber sie lässt ihn einfach stehen. So ein Dickkopf!
Tevje und seine Frau Golde bleiben allein. Er denkt nach, wie es war, wie es ist, bei ihnen beiden. Und er fragt seine Frau: „Ist es Liebe? Golde, sag es!“ Sie zögert bis sie antwortet. Vor 25 Jahren wurden sie verheiratet, ohne einander zu kennen. 25 Jahre waren sie füreinander da. 25 Jahre haben sie alles geteilt. 25 Jahre haben sie zueinander gehalten. Ja, es ist Liebe, es ist Liebe geworden.
Eine rührende Szene im Musical Anatevka. Vor über hundert Jahren wurden viele Ehen von den Eltern arrangiert, nicht nur im polnisch-jüdischen Schtetl.
Ist es Liebe? Oder was hält Menschen zusammen? Leidenschaft, Tradition, Verpflichtung, Gewohnheit, gemeinsame Aufgaben, Angst vor dem Alleinsein? Ist es nur dann Liebe, wenn die Beziehung frei ist von jeder Verpflichtung? Oder steckt dahinter ja doch nur Egoismus, Selbstsucht? Gibt es denn selbst-lose Liebe – wäre sie denn erstrebenswert?
Liebe ist ein schwieriges Wort – so oft missbraucht, um Gefühle vorzutäuschen, um einen Menschen zu beherrschen, um Geschäfte zu machen. Ich kann verstehen, wenn jemand nicht mehr von Liebe reden will. Aber ich kann auch verstehen, wenn jemand von Liebe schwärmt. Ich gerate selbst ins Schwärmen über die wunderbare Liebe, die so viel Gutes und Großes vermag, die Grenzen überwindet, die Menschen erfüllt und glücklich leben lässt.
„Gott ist die Liebe.“ Johannes traut sich was.
Er weißt, wie leichtfertig und missverständlich wir von Liebe reden und wie oft wir der Liebe widersprechen. Dennoch sagt er es, wie eine Definition: Gott ist die Liebe.
Wer wird definiert? Nicht Gott wird definiert. Niemand hat Gott gesehen. Er bleibt größer als unser Verstehen.
Die Liebe wird definiert. Wenn es einen Maßstab für Liebe gibt, dann in Gott. Nicht wir haben Gott geliebt, sondern er uns.
Im gleichen Atemzug sagt Johannes, wer wir sind. In einem Wort, im ersten Wort unseres Abschnitts: „Ihr Lieben!“ – er sagt wörtlich „Geliebte!“ Wir sind Gottes Geliebte. Das genügt um uns zu beschreiben. Gott spricht sein Ja zu uns. Er findet es wunderbar, dass es uns gibt. Er will unser Leben. Er liebt uns.
Kann ich in dieser zerrissenen Welt an Liebe glauben? Was Menschen einander antun können, entsetzt uns immer wieder. Wir hören von den in Aleppo eingeschlossenen Menschen, von den unzähligen Opfern von Folter in syrischen Gefängnissen – unfassbar. Was steckt in uns, dass wir Menschen zu solch kalter Grausamkeit fähig sind? Kollegen oder Klassenkameraden machen einen fertig, mobben ihn, und keiner schreitet ein. Beziehungen werden leichtfertig zerstört. Wir nehmen in Kauf, dass Menschen wie Sklaven schuften, damit wir billige Produkte kaufen können. Gleichgültig lassen wir unsere Mitmenschen im Stich und verletzen sogar die, die uns lieben.
Ist es Liebe? Glauben wir an die Liebe? Wir Christen sind ja nicht besser als andere. Johannes weiß um den Streit, der die Gemeinden entzweit, um verletzendes Verhalten, Rücksichtslosigkeit, Rechthaberei und vieles mehr, was der Liebe widerspricht. Und trotzdem sagt er: Wir kennen Gott, denn er befähigt uns zur Liebe. Er gibt uns die Kraft, seinen Geist, dass wir einander dennoch annehmen. Liebe erträgt den anderen. Sie macht nicht blind, wie manche sagen, sondern sehend. Liebe sieht, wie gut wir einander trotz allem sein können.
Es ist Liebe, die Gott zu uns treibt.
Die Liebe Gottes ist erschienen. Sie kommt zu uns.
„Gottes Liebe zu uns ist daran sichtbar geworden, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, um uns durch ihn das Leben zu geben.“ (Vers 9 Neue Genfer Übersetzung) Er lebt und stirbt, um die zerrissene Welt zu heilen und um uns seine Liebe zu schenken. Er lebt. Die Liebe bleibt.
Ist es Liebe? Kann ich die Liebe für mich gelten lassen? Enttäuscht, traurig fragt der Jünger Thomas: „Ist das denn wahr? Gilt es noch, was Jesus gesagt hat, was er getan hat?Ist mit seinem Tod doch nicht alles aus? Jesus ist mir so fern. Ich möchte ihn begreifen. Ich möchte so gern glauben, aber ich kann es erst, wenn ich ihn sehe.“
Das Wiedersehen hat Ernst Barlach seine Skulptur genannt. Jesus umarmt Thomas. Er stützt ihn. Thomas hält sich an ihm fest. Sein Gesicht zeigt, wie angespannt er ist, wie tief seine Enttäuschung war. Die ganze Anspannung eines mühsamen Menschenlebens in seinem von Angst verzogenen Gesicht. Jesus hält den Jünger, der nicht glauben kann. Er erträgt seine Zweifel, sein Unvermögen. Liebevoll hält er ihn fest.
Jesus sieht nicht Thomas an, sondern uns, wenn er sagt: „Selig seid ihr, wenn ihr nicht seht und doch glaubt.“
Selig sind wir, wenn wir uns der Liebe Gottes anvertrauen. Jesus hält uns, obwohl wir einander Liebe schuldig bleiben. Jesus erträgt unsere Zweifel, unsere Schwäche. Jesus richtet uns auf.
„Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe hat ihren Ursprung in Gott.“
Amen