Ich habe keinen Menschen, Predigt über Joh 5,1-17

Predigt am 27.10.19 von Andreas Hansen über Joh 5,1-17

Joh 5,1-17

Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Es war aber Sabbat an diesem Tag. Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.
Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch.

Wir feiern das Leben. Jeden Sabbat und jeden Sonntag feiern Juden und Christen das Leben. Ein Tag der Ruhe und der Freude über Gott. Gott hat alles geschaffen. Er schenkt das Leben. Ihm, dem Höchsten verdanken wir alles – darum halten Juden den Sabbat heilig. Wir Christen feiern dagegen den Tag nach dem Sabbat. Da finden die Frauen das Grab Jesu leer. Jesus ist auferstanden. Er besiegt den Tod. Das feiern wir.
In Jerusalem wird gefeiert. Auf einen Sabbat fällt auch noch ein Fest. Viele sind gekommen. Es ist was los in der Stadt. Gerade an so einem Tag sind manche besonders traurig. Kennen Sie die Stimmung, wenn die Familien etwas unternehmen und Freunde sich treffen? – für die Einsamen sind Feiertage und Wochenenden schwer zu ertragen.
Jesus geht dorthin, wo der Festtrubel nur von ferne zu hören ist, an einen der Orte, wo niemand recht zum Feiern zumute ist. Denen, die von diesem Tag nichts haben, bereitet er ein Fest. Für sie entfacht er eine Sabbatfreude, die sie so schnell nicht vergessen werden.
Da ist ein Teich mit einer Quelle, die das Wasser von Zeit zu Zeit in Bewegung versetzt. Es heißt, ein Engel bewegt das Wasser und wer zuerst hineinsteigt, soll gesund werden. Um den Teich herum sind Säulenhallen gebaut. In ihnen eine Schar von Kranken – wie ein riesiges Wartezimmer. Hier wird nicht gefeiert. Hier warten sie. Sie haben schon viele vergebliche Therapien hinter sich, verzweifelte und verbitterte Menschen. Die meisten Gesunden meiden diesen Ort. Wer geht schon gern in ein Krankenhaus? Viele haben eine Scheu davor – mir wird vor Augen geführt: „Irgendwann brauche auch ich Hilfe und bin krank. Und irgendwann muss ich sterben.“ Ist hier ein Ort für fröhliche Feste?
Der Teich heißt wie heute manche Krankenhäuser oder Heime: Bethesda – das bedeutet: Haus des Erbarmens. Wenn freilich das Wasser im Teich in Bewegung gerät, gibt es kein Erbarmen: Jede und jeder schaut, dass er so schnell wie möglich zum Teich kommt. Jeder muss sehen, wo er bleibt. Keiner will der Verlierer sein.
Jesu kommt zu dem, der immer Pech hat. Er hört sich seine Leidensgeschichte an: gelähmt, „schwach“ steht da wörtlich, 38 Jahre ist er schon in diesem Zustand, unvorstellbar lang.
„Willst Du gesund werden?“ – was für eine Frage, Jesus! „Willst Du gesund werden?“ Heißt das: „Soll ich dir helfen gesund zu werden?“, oder: „Kannst du dir nach so langer Zeit überhaupt noch vorstellen gesund zu werden?“, oder: „Willst du gesund werden – bist du selbst bereit anders als krank zu sein, willst du es wirklich?“ Vielleicht kann, wer so lange daliegt, gar nicht mehr richtig wollen. Vielleicht ist ihm seine Krankheit wie ein selbstverständlicher Begleiter geworden. Wie ein düsterer Schatten über der Seele kann die Resignation sein. „Es hat ja doch keinen Sinn. Ich kann sowieso nichts ändern.“ Da ist keine Kraft mehr, kein Wille. Jesus spricht diese Lähmung der Seele an.
Wir kenne viele Formen, dass Menschen sich zurückziehen, keinen Mut mehr haben, sich eine Änderung gar nicht mehr vorstellen können, vor jedem kleinen Schritt aus der gewohnten Bahn Angst haben. „Willst Du?“ – eine Zumutung. Und doch: Jesus überfällt den Kranken nicht mit seiner Hilfe. Er achtet die Schwere des Leides, die Mühe, die Angst vor dem ersten Schritt. Aber er lässt den Menschen auch nicht in seiner Resignation. Er hilft ihm selbst zu wollen.
Die Antwort des Gelähmten ist erschreckend: „Ich habe keinen Menschen.“ So allein, wie er ist, kann er sich gar nicht vorstellen, dass er es jemals schafft. „Ich habe keinen Menschen.“ Man kann allein sein mitten unter den Leuten, im Festtrubel, in der Klasse, unter den Kollegen. Das Alleinsein ist besonders schlimm, wenn andere da sind, aber keiner hilft, keiner nimmt einen wahr. „Ich habe keinen Menschen.“
Ich weiß von Menschen, die wirklich vereinsamen, die wohl auch immer scheuer werden, die aus verschiedensten Gründen kaum anderen begegnen. Das macht mich ratlos. Andrerseits weiß ich auch, wie kalt und teilnahmslos und selbstbezogen viele Menschen sind –  fördert unsere Gesellschaft, unsere Kultur diese Kälte sogar? „Ich habe keinen Menschen“ – 38 Jahre lang allein, äußerlich und innerlich gelähmt durch die Krankheit. Gerade zu diesem Menschen kommt Jesus. Er widerlegt den Satz „Ich habe keinen Menschen.“ Jesus findet sich nicht ab. Er schreibt keinen ab. Gott will für jeden Menschen Leben. Darum widerspricht Jesus der düsteren Hoffnungslosigkeit. Er heilt diesen einen Kranken und meint alle, meint auch uns. Gott hat uns geschaffen, dass wir leben, dass wir nicht düster und resigniert sind, dass wir auch nicht kalt und selbstbezogen sind.
Es werden nicht alle Kranken mit einmal gesund, aber selbst die, die krank bleiben, haben ein Ziel von Gott – das ist Leben in seiner Liebe, da ist Hoffnung über alles Leid hinaus, selbst über den Tod hinaus. Nach 38 Jahren soll der Kranke tun, was er sich nicht vorstellen kann, aufstehen. Gott findet sich nicht mit dem Leid ab. Darum ist er Mensch geworden und in all unser Leid mitten hinein gekommen.
Etwas verwirrt tappt der geheilte Kranke umher. Seine Matte soll er nehmen. Seine bisherige Lebensgeschichte kann er nicht einfach ablegen. Die Heilung muss noch weitergehen. Nicht nur die Füße, er selbst muss wieder laufen lernen, auch lernen, anderen ein Mitmensch zu sein.

Noch eine andere Geschichte ist mit dieser Heilung verknüpft. Jesus selbst und nach ihm die Gemeinden der Christen werden in ihrer Umgebung angegriffen und abgelehnt.
Missverständlich ist, dass der Evangelist die Juden wie Feinde zeigt. Er schreibt lange nach Jesus. Die Christen trennen sich Jahrzehnte nach Jesus von den jüdischen Gemeinden, und die wiederum sagen sich von ihnen los – das ist ein schmerzhafter Prozess, weil wir uns ja eigentlich so nahe stehen. Angesichts der schrecklichen Geschichte christlicher Judenfeindschaft müssen wir sehr vorsichtig sein und Missverständnissen vorbeugen. Jesus selbst ist Jude und will nichts anderes sein. Den Sabbat nimmt er sehr ernst. Er sagt: „Mein Vater ist bis heute am Werk“ – Gott ist am Werk und lässt seine Schöpfung und uns, seine Geschöpfe nicht los. Gott ist am Werk, Leben zu schenken. Das feiern wir jeden Sonntag und das feiern die Juden am Sabbat. Wir legen an diesem Tag unsere Hände in den Schoß und verlassen uns auf Gott, der das Leben erhält und uns keinen Tag, keine Stunde einfach loslässt. Wir feiern, dass Gott unserem Leben einen Sinn und ein Ziel gibt. Wir feiern, dass kein Geschöpf Gottes von ihm verlassen ist. Jeden Sonntag feiern wir den Gott des Lebens. Ebenso feiern die Juden am Sabbat den Gott der das Leben schenkt, auch wenn sie dabei nicht an die Auferstehung Jesu denken.

Mitten in einer Welt voll Leid und Unrecht und Tod feiern wir ein Fest der Hoffnung. Jeden Sonntag protestieren wir gegen die Missachtung von Menschen, gegen Unrecht und gegen Resignation. An dem Ort, wo niemandem zum Feiern zumute ist, am Teich Betesda, bereitet Jesus ein Fest, weckt er eine Hoffnung und Freude. So feiert er den Sabbat und Gott, der Leben schenkt. Gott ist bis heute am Werk. Keinen soll es geben, der sagen muss: „Ich habe keinen Menschen.“ Jesus widerlegt diesen Satz.  Amen