Hören wir auf, einander zu verurteilen! Predigt über Römer 14,10-13

Predigt am 19.6.16 von Andreas Hansen über Römer 14,10-13

Römer 14,10-13 (Neue Genfer Übersetzung): Woher nimmst du dir das Recht, deinen Bruder oder deine Schwester zu verurteilen? Und du – woher nimmst du dir das Recht, deinen Bruder oder deine Schwester zu verachten? Wir alle werden einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Denn es heißt in der Schrift: »So wahr ich lebe, sagt der Herr: Vor mir wird jedes Knie sich beugen, und jeder Mund wird Gott die Ehre geben.« So wird also jeder von uns  über sein eigenes Leben vor Gott Rechenschaft ablegen müssen.Hören wir darum auf, einander zu verurteilen! Statt den Bruder oder die Schwester zu richten, prüft euer eigenes Verhalten, und achtet darauf, alles zu vermeiden, was ihnen ein Hindernis in den Weg legen und sie zu Fall bringen könnte.

„Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen.“ So spricht Präsident Erdogan über die Abgeordneten, deren Immunität er aufheben lässt. Seine Anhänger jubeln, aber uns läuft es kalt den Rücken runter. Wo führt das hin, wenn einer seine Gegner einfach   zu Terroristen stempelt? Wo führt es hin, wenn ein ganzer Teil der Gesellschaft ausgegrenzt wird, und wenn Kritik nur als Beleidigung verstanden wird?

Nicht nur in der Türkei gibt es diesen aggressiven Nationalstolz. Nicht nur dort schreien Massen von Menschen ihren Hass in die Welt und fühlen sich im Recht dabei. „Nehmt sie und richtet über sie.“ Dass die Hetze so viel Erfolg hat, finde ich beängstigend. Viele fühlen sich gut und stark,  wenn sie andere verurteilen und ausgrenzen. In vielen Ländern werden reaktionäre politische Bewegungen und Parteien stark, die sich vor allem durch eine Gegnerschaft beschreiben, dadurch, dass sie andere verurteilen. „Nehmt sie und richtet über sie!“ Der Nährboden  für solche Aufforderungen, für ihre oft begeisterte Aufnahme und ein kompromissloses Denken und Handeln ist groß. Er findet sich in vielen Bereichen unseres Lebens und Zusammenlebens. Die sogenannten sozialen Medien laden dazu ein, über andere zu richten. Da nimmt das gegenseitige Abqualifizieren beängstigend zu. Man verfolgt Andersdenkende, Menschen, deren Fehler man in der medialen Öffentlichkeit anprangern kann und die sich nicht wehren können. Wir können darauf nur wirkungsvoll antworten, indem wir auch den verbohrten und hasserfüllten Menschen wertschätzend begegnen, indem wir die, die andere engherzig verurteilen, nicht ebenso verurteilen und ausgrenzen, indem wir nicht nachlassen und uns um Verständigung bemühen.

„Hören wir auf, einander zu verurteilen!“ sagt Paulus. „Richtet nicht!“ warnt Jesus. Aber auch unter Christen gab und gibt es die Sucht, andere schlecht zu machen, sich über sie  zu stellen, ihnen sogar den Glauben abzusprechen. Natürlich bilden wir uns Urteile über andere. Wir schätzen ein, was wir von einem Kollegen erwarten können, wie wir auf einen Schüler eingehen müssen, was wir von einem Menschen halten. Wir können nicht anders. Jesus warnt uns, weil wir einander so oft nicht ansehen. Wir sehen nur etwas von einem Menschen, sein Äußeres z.B., etwas, was er getan oder gesagt hat, und schon sagen wir: „So einer ist das.“ Keiner von uns ist frei von Vorurteilen. Wir bilden uns eine Meinung über andere und leider oft eine falsche.

„Hören wir auf, einander zu verurteilen!“ Aber wo ist die Grenze? Wo müssen wir urteilen und auch ver-urteilen? Wenn es um Wahrheit, Gerechtigkeit oder Leben geht? Manche müssen von Berufs wegen andere beurteilen, als Richter, als Prüfer oder Gutachter. Sie tragen dabei viel Verantwortung. Paulus urteilt extrem hart, als er überzeugt ist, seine Gegner in Galatien oder auch in Philippi verführen Glaubende und verdrehen den Glauben.    Hier in Rom geht es freilich um etwas anderes, weniger Bedeutendes: Darf man Fleisch essen, wenn es vielleicht mit heidnischen Praktiken geschlachtet wurde? Darf man Alkohol trinken? Muss man bestimmte Tage heilig halten? Die einen achten peinlich genau auf bestimmte Vorschriften. Andere meinen: da stehen wir doch drüber. Hier sagt Paulus: Verurteilt nicht!

Hier und in vielen, vielen anderen Fällen ist die Barmherzigkeit weit wichtiger als das Rechthaben. Hört auf mit dem Richten und der Rechthaberei! Wir alle sind darauf angewiesen, dass uns Barmherzigkeit geschieht. Wir alle haben es nötig, dass Gott uns gnädig ansieht.

Johannes erzählt davon in seinem    Evangelium:  Im Vorhof des Tempels hat sich das Volk um Jesus versammelt. Da schleppen sie eine Frau herbei. „Da, schaut euch die an! Ehebruch!  Auf frischer Tat ertappt!“ Sie stellen die Frau in die Mitte. Da ist sie, bloßgestellt, von allen angegafft,   zitternd vor Angst und Scham, schlecht, schuldig, keine Frage, verachtet und verurteilt. „So eine ist die also! Sag uns Jesus: Was sollen wir mit so einer machen? Schuldig ist sie! Nun sag schon, Jesus! Du kennst doch das Gesetz. Steinigen soll man so eine, sagt Mose. Was sagst Du?“ Alle schauen jetzt auf Jesus. Wie wird er antworten? Er hockt auf dem Boden und kritzelt mit dem Finger im Sand. Hat er nicht zugehört? Sie fragen wieder. Er schreibt weiter. Lauter fragen sie, empört, herausfordernd, höhnisch. „Fällt Dir dazu nichts ein? Gib Antwort, Jesus!“ Jetzt richtet Jesus sich auf. Er sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist,werfe als Erster einen Stein auf sie!“ Und bückt sich wieder und schreibt auf die Erde. Still ist es. Keiner sagt ein Wort. Sie senken den Blick. Einer dreht sich um und geht. Der nächste, und immer mehr, alle, bis am Ende die Frau allein da steht. Jetzt richtet Jesus sich auf, sieht sie an, sagt: “Frau, wo sind sie? Hat dich keiner verurteilt?“ „Keiner, Herr.“ „Auch ich verurteile dich nicht. Geh, und sündige nicht mehr!“

„Woher nimmst du dir das Recht, deinen Bruder oder deine Schwester zu verurteilen? Und du – woher nimmst du dir das Recht, deinen Bruder  oder deine Schwester zu verachten? Wir alle werden einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen.“

Jesus nennt nicht gut, was sie getan hat. Sie hat schlecht gehandelt, Schaden und Leid zugefügt und damit auch gegen Gott gehandelt: Sünde. Das sagt Jesus ihr, aber zuerst sieht er die Frau an. Und er ist in dieser Geschichte wohl der Einzige, der sie wirklich ansieht. „Ich verurteile dich nicht. Du bist jemand für mich, nicht nur „so eine“. Du hast auch jetzt eine Würde von Gott, ein Ansehen von Gott.“ So gut möchte ich angesehen werden. So wollen wir alle angesehen werden. Barmherzig, wertschätzend, liebevoll.

Wir leben „vor Christus“ – er sieht uns an. Er sieht auch, was bei uns zu verurteilen ist. Aber er sieht uns an, Christus.     Das Bild von Gott oder Christus auf dem Richterstuhl ist verfälscht und vergiftet worden. Wir können es fast nicht mehr verstehen.

Denn immer wieder wurde es als Drohung missbraucht: „Wehe, du gehorchst nicht, dann wird dich Gott bestrafen.“ Ein Gott, vor dem man sich hüten musste, den man loswerden wollte, so wie  es Tilman Moser im Buch „Die Gottesvergiftung“ beschrieb.

Aber das Gericht hat auch eine gute, friedliche, klärende Bedeutung. Alles kommt ans Licht.
Gott bringt seine Welt zurecht.
Kein Unrecht wird vergessen.

„Wir alle werden einmal vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Denn es heißt in der Schrift: »So wahr ich lebe, sagt der Herr: Vor mir wird jedes Knie sich beugen, und jeder Mund wird Gott die Ehre geben.«“ Da werden wir alle Gott erkennen. Da werden wir uns wundern, wer neben uns steht, und uns wohl über manches Urteil schämen.
Da werden wir auch uns selbst klar sehen und vielleicht am meisten darüber staunen, dass wir da sein dürfen vor Gott.
Paulus beschreibt seine Hoffnung mit Worten aus dem Propheten Jesaja: „jeder Mund wird Gott die Ehre geben“ und weiter: „… Gott die Ehre geben und sagen: Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke.“ In Gott haben wir Gerechtigkeit.
Gott will uns bei sich. Christus sieht uns an.
„Hören wir darum auf, einander zu verurteilen!“

Amen