hellwach – Predigt zum 27.1., Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus, Eph 4,22-26.29

Predigt am 27.1.19 von Andreas Hansen über Eph 4,22-26.29

„I have a dream“ – Ich habe einen Traum. Martin Luther King träumte: Eine Welt ohne Rassismus, eine Welt ohne trennende Grenzen. Er träumte von Versöhnung, Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen. In der Bibel fand er den Grund für seinen Traum. Martin Luther King wurde erschossen. Sein Traum lebt.
„I have a dream“ – Ich habe einen Traum. Der Glaube hält den Traum lebendig.
„Die Bibel ist ein Traumbuch vom Menschsein.“, so sagt der Theologe Friedrich-Wilhelm Marquard, der sich für die Versöhnung von Juden und Christen einsetzt. „Die Bibel ist ein Traumbuch vom Menschsein.“
Trotz allem, was geschah, hoffen wir auf Frieden, Versöhnung, eine menschliche und gerechte Welt. Gemeinsam buchstabieren Juden und Christen heute die Hoffnung. Dass dies möglich ist, ist schon ein Grund den Traum nicht aufzugeben.
Wer dem Traum vom Menschsein folgen will, muss hellwach sein.
Wir hören den Predigttext für diesen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

Ein Schüler von Paulus schreibt im Epheserbrief:

Eph 4, 22-26.29

Legt ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.
Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.
Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.
Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören.

Wer dem Traum vom Menschsein folgen will, muss hellwach sein. Der Epheserbrief redet vom neuen Menschen. Da ist Vorsicht geboten! Die Rede vom neuen Menschen ist oft genug faules Geschwätz. Sie stinkt nach Machtgier und Menschenverachtung. Von einer neuen Zeit und dem neuen Menschen sprachen und sprechen die Diktatoren. Die Nazis wollten den neuen Menschen sogar züchten und ihn mit Hass und Härte imprägnieren.
„Legt ab den alten Menschen mit seiner Gier!“ So eindringlich, wie wir ermahnt werden, wird deutlich: Es fällt uns nicht leicht. Wir können ihn nicht wie ein altes Gewand abstreifen und wegwerfen. Er klebt an uns, dieser alte Mensch. Vorsicht ist geboten vor allen, die sich selbst und ihresgleichen für den neuen Menschen halten,   für besser als die anderen. Das ist ja die Gier, dass wir so gerne die Besseren sind, dass wir uns überlegen fühlen, dass wir über andere bestimmen wollen, weil wir es ja besser wissen, weil uns das ja zusteht. So leicht machen wir andere schlecht – wer könnte sagen, er ist frei von dieser Gier des alten Menschen? „Legt den alten Menschen ab“ heißt: Auch gegen uns selbst müssen wir wachsam sein.
„Legt die Lüge ab. Redet die Wahrheit. Zürnt ihr, so sündigt nicht. Kein faules Geschwätz. Redet, was gut ist, was erbaut, was notwendig ist, damit es Gnade bringe.“
Worte können so viel anrichten. So leicht sagen wir im Streit unbedachte Worte. Wir verletzen und zerstören Beziehungen. So leicht halten wir für wahr, was uns selbst in den Kram passt, und unterstellen dem anderen Unwahrheit. So leicht verurteilen wir, hassen wir, hetzen wir. So leicht wird aus Worten Gewalt.
Worte können viel anrichten. Reporter werden als Lügenpresse beschimpft. Menschen, die sich für andere einsetzen, werden als Gutmenschen verspottet. Unliebsame Politiker werden bedroht und mit Shitstorms überzogen. Was nicht ins eigene Weltbild passt, wird Fake-News genannt. Wir erleben das bei den Herren im Weißen Haus oder im Kreml oder im Palast Erdogans oder bei den Populisten in zahlreichen Ländern und auch bei uns.
Und wir können den Worten kaum ausweichen. Hellsichtig schrieb Orwell 1948 in seinem Roman 1984: Allgegenwärtig ist der Teleschirm, über den es heißt: „Man konnte das Gerät zwar leiser stel-len, aber ganz ausschalten ließ er sich nicht.“
Ein Kampf der Worte –  so begannen die Nazis ihr Werk, und fast alle fielen auf ihre Worte herein und huldigten der Macht. Fast keiner widersprach den Lügen, der Hetze gegen Juden, der Menschenverachtung, der Verhöhnung demokratischer Rechte, der Aufstachelung zum Mord.
Aus Worten wird Gewalt, Sprache, die ausgrenzt, eine „spalterische Sprache“ nennt sie der Bundespräsident. Sie vergiftet das Klima und letztlich die ganze Gesellschaft.
Als 1979 der Film Holocaust das alltägliche Unrecht an den Juden zeigte, erschraken viele: „Wir haben ja auch mitgemacht. Wir sind ja auch an den Leuten mit dem Stern vorbeigegangen.“

Es ist den evangelischen Kirchen sehr schwer gefallen zu erkennen und zu bekennen, dass auch sie Schuld am Unrecht im Nationalsozialismus trugen. Die meisten hatten Hitler begrüßt. Auch an unserem Pfarrhaus hing wohl die Fahne mit dem Hakenkreuz. Sie haben geschwiegen zum Unrecht zB zu den Pogromen im November 1938. Nur einzelne Christen wie Dietrich Bonhoeffer wagten Widerspruch.
Im Oktober 1945 kam eine Delegation des Ökumenischen Rates zur Versammlung des Rates der EKD in Stuttgart. Da formulierten sie eine für damalige Verhältnisse mutige Schulderklärung: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden.“
Der Text war damals sehr umstritten. Es stimmt leider nicht, dass die Kirche „im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft (hat), der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat“. Aber immerhin war es ein erster Schritt für einen neuen Anfang. Erst seit den 80er Jahren gibt es klare Worte zur Schuld der Kirche an den Verbrechen. Heute sagt unsere Landessynode „Antisemitismus ist Gotteslästerung“ und in der Grundordnung unserer Kirche heißt der dritte Artikel: „Die Evangelische Landeskirche in Baden will im Glauben an Jesus Christus und im Gehorsam ihm gegenüber festhalten, was sie mit der Judenheit verbindet. Sie lebt aus der Verheißung, die zuerst an Israel ergangen ist, und bezeugt Gottes bleibende Erwählung Israels. Sie beugt sich unter die Schuld der Christenheit am Leiden des jüdischen Volkes und verurteilt alle Formen der Judenfeindlichkeit.“

Wir haben einen Traum.
Wir träumen vom Menschsein und wollen hellwach sein gegen alle Vergiftung und Verwahrlosung der Sprache, gegen die Sprache der Verachtung und der Feindseligkeit, wachsam auch gegen den alten Menschen in uns selbst.
Aber wir wollen, wie es der Epheserbrief sagt, uns erneuern lassen in unserem Geist und Sinn und den neuen Menschen anziehen, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Paulus meint: Wir haben Jesus Christus angezogen. Von ihm sind wir schon jetzt geprägt. Wir sind frei, neu zu beginnen. Wir können der Lüge begegnen und die Wahrheit sagen. Wir können reden, was gut ist, was erbaut, was notwendig ist, damit es Gnade bringe.
Jesus Christus hat die Macht des alten Menschen gebrochen, obwohl wir immer wieder erleben, wieviel Unheil die Gier bewirkt.
Wir haben einen Traum. Unser Glaube an Jesus Christus hält ihn lebendig und wir erkennen schon jetzt Versöhnung, Frieden, Gerechtigkeit durch ihn.
Lasst uns – hellwach – träumen in seinem Namen.

Amen