Liebe Gemeinde!
„Religion ist zur Irritation geworden. Das hat zweifelsohne damit zu tun, dass wir nicht so recht wissen, ob sie im Kommen oder im Gehen ist. Was als längst überwunden galt, ist scheinbar wieder da. Diejenigen, die fest vom baldigen Ableben der Religion überzeugt waren, sei es froh-lockend oder in Trauer gehüllt, reiben sich die Augen. Aber was sie sehen, ist keineswegs eindeutig: Haben wir es mit einem hartnäckigen, aber sanften Nachleben zu tun oder doch mit einem Nachbeben, das weitere Erschütterungen ankündigt? …
Aber auch die andere Diagnose vermag zu irritieren – die Behauptung, Kunst sei zu einer Art Ersatzreligion geworden. Dies gälte dann für Menschen, die sich enttäuscht oder gekränkt von Religion abgewendet haben, und Lebenssinn in anderen Gefilden suchen, eben denen der Kunst. [Es] lässt sich nicht von der Hand weisen, dass zwischen beiden Lebensbereichen Überschneidungen und Ähnlichkeiten existieren. Reli-gion und Kunst sind prominente Anwärter auf das Amt des Sinn-Spenders. Sie haben, gewiss je aus eigener Perspektive, mit Verletz-ungen und Verheilungen zu tun …“1), so schreibt es Jean Pierre Wils in seinem Buch „Kunst. Religion, Versuch über ein prekäres Verhältnis“.
Kunst und Glaube verbindet, dass sie dem Menschen nicht einfach zugänglich sind, sie sprechen ihre je eigene Sprache. Der von ihnen angesprochene muss sich öffnen, sonst kann nur wenig gesehen, gehört oder in einem tieferen Sinne erkannt werden – in der Fülle der Bilder und Klänge, die uns umgeben, auf uns täglich einstürmen und denen wir uns kaum entziehen können. Die Kunst und der Glaube lassen uns so nie-mals fertig werden, sondern in einem ganz guten Sinne unterwegs sein, neugierig, auf der Suche in den uns vorgegebenen Lebensräumen.
Zehn Jahre Kunst und Kirche in Kenzingen! Zehn Jahre der Versuch, einmal im Jahr in einem besonderen Gottesdienst und einer entspre-chenden Bilderausstellung Kunst und Kirche ins Gespräch zu bringen, und unseren Glauben somit auch einmal auf eine ganz andere Weise zu bedenken. Wenn Religion und Kunst auf ihre je eigene Weise dazu beitragen, ein „Sinn-Spender“ zu sein oder immer wieder neu zu werden, so erfüllen sie jedenfalls für uns in unserer Kirchengemeinde und mit diesen besonderen Gottesdiensten eine ihrer Aufgaben. Die andere wäre dann für uns mit und durch ein ausgestelltes Kunstwerk Gott die Ehre zu geben und ihm für seine gute Schöpfung zu danken, die wir in immer neuen Farben und Klängen erleben können.
Einen ganz besonderen Klang bringt, wie wir es eben gehört und gesehen haben, die Uraufführung der Komposition „Space/Line“ von Otfried Büsing in unseren Gottesdienst hinein, wo es um das „Suchen des Weges im Raum“2) geht, nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar mit einem im Kirchenraum verteilten Chor.
Wir sehen heute hier ein Werk von Helga Marten, die gerade vor weni-gen Tagen bei der Verleihung des Reinhold-Schneider-Preises die Ehrengabe der Stadt Freiburg erhielt. „Räume“ ist der Titel der diesjäh-rigen Bilderausstellung unter dem wir im Gemeindehaus nur eine kleine Auswahl aus ihrem großen Gesamtwerk von unzähligen Zeichnungen, Radierungen, Bildern in Pastellfarben und über 1500 Ölbildern zeigen. Das hier ausgestellte Bild entstand fast in unserer Nachbarschaft. Wir befinden uns im Park von Badenweiler und sehen durch Baumkronen hindurch das Dachfenster eines bekannten Hotels. Immer wieder findet sich in ihrem Werk, wie in dem hier ausgestellten, Natur und Architektur kombiniert.
Die Journalistin Susanne Bader schrieb nach einem Besuch bei Helga Marten: „Im Gespräch mit der Malerin Helga Marten öffnet sich eine ganze Welt, ein Leben entfaltet sich in Bildern: Porträts, Selbstporträts, Landschaften, Stillleben… Die Malerin Helga Marten lebt durch die Kunst. Sie will anderen Menschen etwas geben. Das Malen ist ihr eigentliches Leben. `Wenn ich nicht male, bin ich auswärts´, sagt sie. Dem Vergehenden etwas entgegenzusetzen ist ihr großes Anliegen. Malen, das ist ihr Aufstand gegen das Nichts…“3)
Und Hans-Joachim Müller schreibt zu einer Ausstellung mit ihr: „Ein eigenes Bild auf die Welt zu finden, mit eigenen Mitteln, die niemand sonst hat, das sei es, was sie am Malen interessiere..“4)
„Räume“, ein vielleicht zunächst befremdlich klingendes Thema für eine Ausstellung, ja auch für einen Gottesdienst, aber es war die Sicht auf die unzähligen Bilder bei einem Besuch im Atelier von Frau Marten und einem ausführlichen Gespräch mit ihr, die uns sehr bald schon auf dieses Thema brachte. „Räume“? Wir kennen viele Räume, wie z.B. den Lebensraum, die Wirtschafts- oder sogar die Kirchenräume. Wir können aber auch an das Aufräumen oder an das Wegräumen denken.
Wir leben mit einem Innen und Außen, zentral und randständig, hoch und tief. Welche Räume bietet uns Gott an, den die Theologie, die Kunst auf ihre je eigene Weise andenken und bereit stellen? Kein Widerspruch in beidem. Denn: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“, so heißt es in Psalm 31.
Auch Räume sind Gottes Schöpfung, so dass wir einen festen Boden unter den Füßen haben, dass wir das, wovon wir leben, anbauen und heute weltweit produzieren können. Dabei benutzen die Redaktoren der Bibel den Begriff „Raum“ immer in konkreteren Zusammenhängen.
Da gibt es die Berge (Ps. 121,1+2) zu denen wir hinaufschauen, um Hilfe von Gott zu erwarten; die finsteren Täler (Ps. 23,4), in denen wir dennoch kein Unglück zu fürchten haben; die Wüste (Matth 3,1), in der Johannes predigt oder eine fette Weide (Hes. 34,14), die Nahrung verspricht, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Es werden un-zählige Räume genannt, in denen etwas geschieht, ganz abgesehen von Städten wie Jerusalem, Bethlehem oder Nazareth. So sind auch „Orte und Räume […] nie neutral, sie haben einen `Ruf´ je nach den Gescheh-nissen, die sich dort ereigneten… Sie sind Orte der Gottesbegegnung oder auch Orte der Dämonen, bedrückend oder auch beglückend…“7 Unser Psalmwort ist ein Dankgebet, mit dem wir mitten in unserem eigenen Leben und unserer Welterfahrung stehen.
So wird auch das Leid des Menschen in seinem Lebensraum nach-drücklich vor Gott gebracht: Die Schande und das Elend. Die Trauer und das Verlassen der Lebenskraft. Der Schrecken und das Gefühl noch lebendig, doch schon tot zu sein. Alles Erfahrungen, denen sich viele von uns in ihrem Leben und am eigenen Leib ausgesetzt fühlen. Ganz zu schweigen von Menschen, die heute in Syrien unter Krieg zu leiden haben, weltweit unter Diktaturen und Terror. Menschen hängen frierend und hungernd an den Zäunen vor Europa, wobei wir genau die Gesetze machen, die uns dienen, weniger aber jene, die ethisch von Europa zu erwarten wären, wenn wir die Maßstäbe anlegen würden, die wir selbst uns einmal gegeben haben. Wenn G o t t aber unsere „Füße auf weiten Raum stellt“, woher nehmen wir uns dann das Recht, den Lebensraum anderer Menschen immer wieder einmal zu begrenzen
In einem Kommentar zu Karl Schlögels Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“, heißt es: „Geschichte sei nie ortlos. Ganz im Gegenteil. Sie um-fasst eine Vielzahl konkreter Räume, realer Landschaften, echte Schau-plätze und Tatorte. Ja, Räume werden von uns zu Tatorten, die es aufzusuchen lohnt…“6) Raum und Zeit stehen in einer Beziehung zuein-ander und unzählige Philosophen haben sich mit der Frage nach dem „Raum“ auseinandergesetzt, gerade auch in Verbindung mit der „Zeit“. Denn wir brauchen Räume für die Zeit unseres Lebens und Wirkens. Gott, der den Raum geschaffen hat, hat auch die Zeit geschaffen, ohne aber selbst an sie gebunden zu sein. Und so eröffnet uns die Bibel den Blick für Raum und Zeit.
Der Psalmbeter bittet dennoch, trotz all seiner dunklen, schattenhaften Erfahrungen darum, dass Gott seine „Füße auf weiten Raum“ stellen möge. Er vertraut sich seinem Gott an, bei dem er auch seine „Zeit“ aufgehoben weiß, wenn es später in diesem Psalm heißt: „Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen. (Ps. 31,15+16).
„Dem Vergehenden etwas entgegenzusetzen ist [Helga Martens] großes Anliegen“, schrieb Susanne Bader. „Malen, das ist ihr Aufstand gegen das Nichts…“ Ein Wort gegen die Resignation, gegen das Aufgeben der Hoffnung für die Zeit, die uns geschenkt ist und für die unendlich vielen Räume, in denen wir unser Leben verwirklichen dürfen. Unsere „Kirchen sind darum als Resonanzräume zu verstehen.“8) Hier muss der Glaube mit der Wirklichkeit ins Gespräch geführt werden, gerade auch durch das Angebot von Kunst und Kirche in Kenzingen. Wir spüren es doch immer wieder – soweit wir diese Auseinandersetzung zulassen – wie sehr uns die Kunst, sei es durch Malerei, Literatur oder Musik immer in eine Auseinandersetzung hineinführen ja, auch in eine Auseinadersetzung mit dem Glauben.
Danken wir Gott für das Geschenk von Kultur, Kunst und Kirche, von gestalteter Farbe und komponierten Klängen. Mit ihnen werden wir – zumindest im Raum der Kirche und des Glaubens – an die gute Schöp-fung Gottes erinnert, die eben auch durch uns Menschen mit gestaltet wird. Darüber hinaus danke ich heute Helga Marten, dass sie sich bis in die Gegenwart hinein, täglich auf den Weg macht, um etwas zu schaffen, was ihren Mitmenschen Freude vermittelt – und Otfried Büsing und der Kantorei für die neuen Klänge, die wir heute hören durften.
Rainer Marten, mit seiner Frau in einem lebenslangen Gespräch über die jeweilige Arbeit des anderen verbunden, schreibt in dem Buch „Lebens-bilder“ über das Werk seiner Frau: „… Die tägliche einsame Arbeit ist für Helga Marten die tägliche Erfahrung und Gewissheit, auf dem Wege zu Anderen zu sein.“ 9)
So lassen Sie uns heute mit Helga Martens Bildern auf dem Weg sein – auf dem Weg sich an ihren Bildern zu erfreuen, sich mit der Kunst auseinanderzusetzen und auf dem Weg zu bleiben zu den Anderen. Denn wo könnten wir besser ankommen, als beim Mitmenschen, in all den Lebensräumen, welche Gott uns und seiner Schöpfung täglich neu schenkt.
Ja, du, Gott, „stellst unsere Füße auf weiten Raum“! Amen.
Literatur
1) Wils, J.P., Kunst-Religion. Versuch über ein prekäres Verhältnis,
Tübingen, 2014, S.9
2) Büsing, O., Mail vom 09.11.2015 an H.-H. Schneider
3) Bader, S., Der Aufstand gegen das Nichts – Die Malerin Helga Marten, in:,
Wetzsteinbrief, Buchhandlung zum Wetzstein, Freiburg, Februar 2014
4) Müller, H.-J., Badische Zeitung, 21. März 2016, St. Märgen/Freiburg
5) Hinweis von: Konersmann, R., Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Kiel,
2014, S. 274ff
6) Weisker, A., in: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-3267
7) Grünberg, W., Der Raum schaffende Gott, Magazin für Theologie und Ästhetik,
42/2006, in: http://www.theomag.de/42/wog2.htm
8) Grünberg, W., a.a.O.
9) Boehm, G und Armin, F., Hrsg., Veröffentlichungen des Morat-Instituts, Band III,
2001, S.10
Luther, M., Psalmenauslegung, Bd. II, Hrsg. Erwin Mühlhaupt, Göttingen1962, S. 30ff
Weiser, A., Die Psalmen, Göttingen, 19667, S. 184f
Marti, K., Die Psalmen, Stuttgart, 20102, S.,84f
Herzlich danken möchte ich Frau Helga Marten für die freundliche Aufnahme unseres Arbeitskreises in ihrem Atelier am 02. Juli 2014, die vielen Informationen und das anschließende Gespräch zusammen mit ihrem Gatten Prof. Dr. Rainer Marten in ihrem Haus, sowie Frau Ulrike Claeys, der Galeristin von Frau Marten, für Ihre geduldigen Antworten auf meine Fragen. Danken möchte ich auch Prof. O. Büsing für seine hilfreichen Informationen zu seiner Komposition „Space/Line“.
Weitere Predigten, auch zu Kunst und Kultur, finden Sie bei: Schneider, H.-H., Herausforderungen, Predigten zu den Festen des Kirchenjahres, Kunst und Kultur, Fromm-Verlag – und im Internet unter:
http://www.predigten.de/ (Powersearch anklicken, Text oder Name eingeben)
Hanns-Heinrich Schneider, Pfr.i.R., Kenzingen/Br.