4. Mose 10, 29-32

Predigt am 11. Mai 2014 von Hanns-Heinrich Schneider über 4. Mose 10, 29-32

Predigt am Tag der Vernissage der Kunstausstellung Seh-Zeit

Abgetaucht (Bildausschnitt), Karin Goger-Klundt
Abgetaucht (Bildausschnitt), Karin Goger-Klundt

Mose sagte zu Hobab, dem Sohn seines midianitischen Schwiegervaters Reguël: »Wir machen uns jetzt auf den Weg in das Land, das der Herr uns geben will. Geh mit uns! Dann geben wir dir einen Anteil an dem guten Land, das der Herr seinem Volk Israel zugesagt hat.« Hobab erwiderte: »Ich möchte lieber in meine Heimat zurückkehren.« Aber Mose bat ihn: »Verlass uns doch nicht! Wir brauchen dich, weil du dich in der Wüste auskennst und weißt, wo geeignete Lagerplätze sind und du sollst unser Auge sein. Wenn du mit uns kommst, wollen wir alles, was der Herr uns geben wird, mit dir teilen.« Numeri 10, 29-32

Liebe Gemeinde!

„Du sollst unser Auge sein!“ In die unbekannte Zukunft drängend, bittet Mose seinen Verwandten, ihn und sein Volk in die unbekannte, noch dunkle Zukunft zu führen.“ Geh mit uns… Verlass uns doch nicht! Wir brauchen dich, weil du dich in der Wüste auskennst… Und du sollst unser Auge sein!“ Was für eine Bitte in einer derartigen Notlage. Hier geht es um das Auge, in unzähligen anderen Texten der Bibel um so gut wie alle anderen Organe, die eine Bedeutung für uns Menschen haben, oft auch auf Gott selbst bezogen: Da gibt es die Augen, die Ohren oder den Mund, das Angesicht, Hände und Füße, den Rücken oder das Herz. Dass alle diese Organe in der Bibel vorkommen, unterstreicht ihre Bedeutung und mahnt uns achtsam mit ihnen umzugehen.

Mose braucht ein fremdes Auge, das weiter sehen kann, als es ihm möglich wäre, um nicht blind in der Wüste herum zu stolpern und so niemals das erwünschte Ziel zu erreichen. Mitten im Mai 2014 führt uns dieser Gottesdienst mit dem Bild „Abge-taucht“ von Karin-Goger Klundt in unsere eigene Gegenwart hinein. Die Wüsten kennen wir aus unserem Leben, denn auch uns fehlt manchmal ein Auge, das uns führen und zu ersehnten Zielen begleiten könnte. Und so haben wir die Ausstellung, die wir heute in unserem Gemeindehaus eröffnen „Seh-Zeit“ genannt. Ostern, mit seiner grandiosen Botschaft liegt gerade hinter uns und der Name dieses Sonntags „Jubilate“ führt uns gedanklich hinein in die gute Schöpfung Gottes. Seh-Zeit, Zeit zur Dankbarkeit für das Geschenk der Schöpfung.

Doch man muss sie sehen können, vielleicht heute wieder vermehrt, sehen lernen. Wir müssen auf sie hören, was sie uns in den tiefgreifenden Herausforderungen der Moderne zu sagen hat, wo uns Möglichkeiten, wie aber eben auch Grenzen aufgezeigt werden. Schon Adam fragt seinen unbekannten Gott: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ und die Antwort der Bibel lautet von den ersten bis zu den letzten Seiten der Bibel, Ja, du sollst nicht nur deines Bruders Hüter sein, sondern eines jeden Menschen, der dir begegnet, sowie der Schöpfung, mit allem, was in ihr wächst und lebt. Das alles ist dir anvertraut, sieh hin und hör zu, fass an, schaffe und verantworte das dir anvertraute.

Nur wenig Verständnis haben wir für Menschen, die nichts sehen und nichts hören, denn sie leben am Mitmenschen vorbei. Wie bedeutsam unsere Augen sind, wird ja schon umgangssprachlich deutlich: Wünsche werden von den Augen abgelesen, es gibt sprechende oder sogar tote Augen. Man ist ganz Auge und Ohr. Man fasst ein Ziel ins Auge und dafür sucht sich Mose eine Art Blindenführer. Man fürchtet das Auge des Gesetzes, wenn man etwas angestellt hat oder nimmt mit jemanden Blickkontakt auf, wenn man ein Gespräch sucht. Offenen Auges rennt ein Mensch in sein Unglück oder man blickt durch. Und wer kennt die Aussage des „Kleinen Prinzen“ nicht: „Man sieht nur mit dem Herzen gut!“ 1)

Auf dem ausgestellten Bild sehen wir Fische, einen ganzen Fischschwarm und zwei Taucher, die aus der Tiefe aufsteigen. Die Fische schwimmen durcheinander, mit- und gegeneinander und sie unterscheiden sich, wie in der Natur ja auch, durch unterschiedliche Formen und Farben. Gleichförmigkeit wäre der Schöpfung Gottes fremd, sie wäre langweilig, uniformiert. Und wie passt das Dargestellte nun zum vorgegebenen Thema?

Karin Goger-Klundt taucht, wie sie selbst es beschreibt, in ihre Arbeit ein, dabei ist die Unterwasserwelt für sie offen, vieles auch noch unerklärlich, geheimnisvoll. Wer immer wieder einmal abtauchen kann findet Ruhe, er kann den Alltag, wenigstens für diese Zeit einmal hinter sich lassen. Dabei, und so greift sie den Titel der Ausstellung auf, bedeutet die „Seh-Zeit“ für sie, sich einmal herauszunehmen aus dem Alltag, eigene Gedanken schöpfen zu können, Erinnerungen wach werden zu lassen, wobei – wie im dargestellten Bild – eben manches versteckt bleibt, dem Auge lange unsichtbar. Und so lädt das hier ausgestellte Bild uns heute ein, dass auch wir uns jetzt einmal Zeit nehmen, um in uns selbst hinein zu hören und in die Tiefe unserer Existenz hinein zu schauen.

Spätestens jetzt spüren wir, wie sehr das Bild selbst zur Predigt wird, das Wort begleitet und so sagte der große Kirchenlehrer des 19. Jahrhunderts in seinem berühmten, eine ganze Epoche prägenden Werkes „Über Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“: „… Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen, deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist. Freundliche Worte und Ergießungen des Herzens schweben ihnen immer auf den Lippen und kehren immer wieder zurück, weil sie die rechte Art und den letzten Grund ihres Sinnens und Sehnens noch nicht finden können. Sie harren einer näheren Offenbarung und unter gleichem Druck leidend und seufzend sehen sie einander dulden, mit inniger Zuneigung und tiefem Gefühl vielleicht, aber doch ohne Liebe.

Man spürt geradezu, wie sehr „Religion“ und „Kunst“ zusammengehören und sich hier und da eben doch fremd bleiben. Und dabei ist es ja unbestreitbar, dass gerade die Kunst in der Kirche seit Jahrhunderten ein Zuhause hat. Selbst Menschen, die sich dem Glauben und ihren Kirchen entfremdet haben, gehen in Kirchen, um sich die Werke alter Meister anzuschauen, hinzusehen und abzutauchen in die Schönhei-ten der dargestellten Kunst. Und was wird dargestellt? Es sind in unzähliger Weise in Bildern erzählte biblische Geschichten, ein auf seine eigene Weise dargestellter Glaube. Und geht es nicht ganz ähnlich mit der Musik? Was hören wir denn in den Messen Bachs oder Mozarts, wenn nicht den in eine Vielfalt von Klängen umge-setzten Glauben.

Und so begleitet Frau Marten Büsing uns heute auf der Orgel mit zwei meditativen Sätzen von Oliver Messiaen, überschrieben mit „Himmelfahrt“. Und sie schreibt dazu: „So bin ich mit meiner Musik also nicht bei Fischen und Wasser (keine sonderlich musikalischen Themen), sondern oben und unten, hier und da, Klanglich in farbiger Ruhe…“ Es fällt nicht schwer, die Musik und das Bild zusammen zu bringen. Zwei Weisen der Kunst, die uns sehen und hören lassen.

Zu einem Workshop „Gottesdienst und Kunst“ wurde einmal gesagt: „Kunstwerke stellen den Versuch dar, unabhängig von historischen Vorgaben, Fenster zur Ewig-keit zu öffnen und neue, ungewohnte Perspektiven (auf Gott) freizusetzen. Jedes Gemälde ist – schon von der Form her – ein „Ausschnitt“ aus dem ganzen der Welt. Es enthält eine bestimmte Deutung der Wirklichkeit, und, könnten wir durch den Rahmen hindurch ins Bild hinein steigen, es täte sich dahinter eine ganze eigene Welt auf. Aus dem Bild des Malers schaut uns die Ewigkeit an…“ 3)

Jubilate: Es geht heute an diesem 3. Sonntag nach Ostern um den jubelnden Dank für das Geschenk der Schöpfung, in der wir leben dürfen, in die wir zugleich aber auch schöpferisch mit gestaltend hinein wirken. Es ist unsere menschliche Aufgabe und Verantwortung! Gott gilt es als „dem Schöpfer des Himmels und der Erde“, wie wir es im Apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen, zu loben und zu danken. Aber es kann mit Recht danach gefragt werden, wie wir dieser Aufgabe heute ge-recht werden und da darf es, wie wir es heute erleben, mancherlei Formen und vielerlei Farben und Klänge geben, die neben das gesprochene Wort treten dürfen. Es geht bewusst oder unbewusst um eine Manifestation, dass wir Menschen mit Gaben beschenkt sind, die eben manchmal auch über uns selbst hinausweisen, auf den, dem wir sie verdanken.

Wir sehen Fische auf unserem Bild. Fische in mancherlei Formen und Farben. Gerade das Symbol des Fisches hat seine besondere Bedeutung für die Kirche, für uns Christen. Das Fischsymbol lässt sich auf die Anfänge der Kirche zurückführen, als es zu einem geheimen Erkennungszeichen für die Christen wurde. Man hatte Angst vor der heidnischen Umwelt und bekannte sich mit diesem Symbol zu Jesus Christus. Mit den griechischen Buchstaben für das Wort Fisch „ICHTHYS“ konnte ein neues Wort gebildet werden und das war ein Bekenntnis, ein Bekenntnis des Glau-bens: „Jesus – Christus – Gottes – Sohn – Erlöser.“

„Der Fisch kann archetypisch und tiefenpsychologisch als Symbol für die (unter Wasser) verborgene Wahrheit gedeutet werden, die es zu fangen, also ans Licht zu holen gilt. Sie schillert zunächst im Verborgenen, entgleitet dem Fischer leicht, verspricht aber Nahrung. In der Geschichte vom Fischzug des Petrus erweist sich Jesus damit auch als Wegweiser zur Wahrheit…“ 4) Viele neutestamentliche Ge-schichten erzählen von Fischern, weil einige der Jünger Jesu selbst ja Fischer waren oder von Fischen. Doch auch im Märchen oder in Kindergeschichten spielen Fische eine große Rolle, um hier nur an das tolle Märchen „Von den Fischer und siine Fru“ oder an die Geschichte von kleinen „Swimmy“ zu erinnern, der seinem Fischschwarm nach aufregenden Erlebnissen schließlich zum rettenden Auge wird.

Und du sollst unser Auge sein! Es ist „Seh-Zeit“! Nehmen wir die uns unverfügbare und geschenkte Zeit unseres Lebens und des Augenblicks, in dem wir leben, um uns vielleicht doch noch einmal empfindsam werden zu lassen für ein aufmerksameres Sehen. Ein Sehen, dass sich der Welt in ihrer Vielfalt stellt und dabei auch die Grau- und Dunkeltöne, die Schattenseiten des Lebens durchaus wahrnimmt und das sich gerade daher an der Kunst ebenso erfreuen kann, wie an der guten Schöpfung unseres Gottes. Und für beides bleibt uns nur der Dank! Amen.

Literatur:

  1. Früchtel, U., Mit der Bibel Symbole entdecken, Göttingen, 1991, S. 185ff
  2. Schleiermacher, F.D., Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Leipzig, 1920
  3. Carl, H.U., Workshop „Gottesdienst mit Kunst“, Pfarrvereinsblatt 2/2014, S. 41
  4. siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Fisch_%28Christentum%29