Predigt am 4.10.15 von Andreas Hansen über Mk12,28-34
Markus 12,28-34 (Zürcher Bibel) Und einer der Schriftgelehrten, der gehört hatte, wie sie miteinander stritten, trat zu ihm. Und da er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Das zweite ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Höher als diese beiden steht kein anderes Gebot. Und der Schriftgelehrte sagte zu ihm: Schön hast du das gesagt, Meister, und du hast Recht! Einer ist er, und einen anderen außer ihm gibt es nicht und ihn lieben mit ganzem Herzen und mit ganzem Verstand und mit aller Kraft und den Nächsten lieben wie sich selbst – das ist weit mehr als alle Brandopfer und Rauchopfer. Und Jesus sah, dass er verständig geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und keiner wagte mehr, ihm eine Frage zu stellen.
1938 bringt Pfarrer Herrmann Maas an der Tür seines Hauses in Heidelberg eine Mesusa an. Das ist eine Kapsel mit den Worten des „Höre Israel“, so, wie das in jüdischen Häusern üblich ist. Maas antwortet mit dieser Geste auf die Zerstörung von Synagogen in Deutschland. Er zeigt seinen jüdischen Freunden: Wir Christen glauben wie ihr Juden an den einen Gott. Wir gehören zusammen. Und er zeigt seinen Mitchristen: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Wir dürfen nicht schweigen, wenn die Nazis auf das Volk Gottes einschlagen. Sie verhöhnen Gott. Herrmann Maas gehört damals zu den ganz wenigen mutigen Ausnahmen. Seit 1933 versuchen die Nazis den bekannten Judenfreund aus seinem Amt zu drängen. Er geht mit den Juden ins Lager nach Gurs. Am 22. Oktober 1940 werden Tausende von Juden aus ganz Baden und der Pfalz nach Südfrankreich verschleppt. Gauleiter Wagner verkündet stolz, dass Baden „judenrein“ ist. Vor dem Friedhof am Steinernen Weg erinnert ein Denkmal an die unmenschliche Vertreibung, von der auch Kenzin-ger Mitbürger betroffen waren. Maas begleitet seine Freunde einfach. Mit den Worten des „Höre Israel“ auf den Lippen sind viele Juden in den Tod gegangen. Trotz allem Unrecht und Leid bekennen sie sich zu Gott. Sie halten sich fest an Gott. Trotz allem ist Gott ihr Halt, ihr Fels, ihre Burg – vorhin hörten wir solche Bilder für Gott im Psalm. Was ist das für ein Glaube, der so trotzig und unbedingt an Gott festhält?
„Höre Israel, der HERR ist unser Gott, er allein. Es gibt nur einen Gott. Es gibt nur einen Grund für unser Leben, für alles Leben, nur einen Grund der Welt.“
Israel hat Gott erkannt, oder besser: Gott hat sich dem Volk Israel offenbart.
In der tiefsten Krise, als sie alles verloren haben, da wächst der trotzige, wunderbare Glaube an Gott. Das kleine Israel wird von seinem mächti-gen Nachbarn Babylon zerschlagen. Der König und mit ihm die ganze Oberschicht wird verbannt. Jerusalem und der Tempel liegen in Trümmern. Nichts bleibt ihnen.
Mit leeren Händen stehen sie da in der Fremde.
Sie fragen nach Gott und sind verzweifelt.
An diesem tiefsten Punkt sagt Gott zu ihnen: „Ihr braucht keinen Tempel, um mich zu finden.
Ich bin da. Ich bin immer bei euch. Ich habe euch ins Leben gerufen. Ich habe einen Bund mit euch geschlossen. Ihr seid immer wieder von mir fort gelaufen, habt zu allen möglichen Götzen gebetet. Aber ich warte, dass ihr euch zu mir wendet. Ich bin da. Ich bin euer Gott. Ich lasse euch nicht los.“
Sie müssen wohl mit leeren Händen vor dem Nichts stehen, um zu erkennen: „Wir leben immer und auch jetzt aus der Liebe Gottes. Es ist nur ein Gott. Grund allen Seins, Quelle alles Lebens. Geduldig ruft er uns, wartet er auf uns, will er, dass wir ihn erkennen.“
Was ist das für ein Glaube, der so trotzig und unbedingt an Gott festhält?
Nein, umgekehrt müssen wir fragen:
Was ist das für ein Gott, der trotz allem unbedingt an seinem Volk festhält?
Gott hält an uns Menschen fest, trotz allem, was wir anrichten. Schauen wir die Welt an mit ihren schrecklichen Konflikten, mit ihrem Unrecht und ihrer Grausamkeit. Es ist zum Verzweifeln. Aber Gott gibt die Welt nicht verloren. Gott liebt und will uns trotzdem. Was ist das für ein Gott? Ein Gott voll Liebe und Güte!
Manche Leute sagen: Der Glaube an den einen Gott macht Menschen fanatisch und intolerant.
Der Glaube Israels zeigt das Gegenteil. Israel hat den einen Gott erkannt und weiß: Wir leben aus seiner Liebe und Güte, selbst wenn wir Leid tragen müssen, selbst wenn wir schuldig werden.
Trotz allem hält Gott an uns fest.
Jesus und der Schriftgelehrte sind sich einig:
Das erste und wichtigste Gebot heißt: „Höre Israel, du sollst Gott, den Gott der Liebe, von ganzem Herzen lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Wie alle Juden, die ihren Glauben ernst nehmen, betet Jesus das „Höre Israel“ täglich. Er verbindet es hier mit einem anderen Gebot aus dem Alten Testament. „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“ (3.Mose 19,18) Damit ist der Gelehrte ganz einverstanden: Wir dienen Gott, wir lieben Gott, indem wir unseren Mitmenschen Gutes tun.
In der Liebe zum Nächsten verwirklicht sich die Liebe zu Gott. Die beiden sind sich einig.
Aber dann sagt Jesus noch einen Satz. „Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“ Darüber erschrickt der Schriftgelehrte. „Wie redest du, Jesus? Weißt du denn über mich Bescheid? Kennst du mein Herz? Wer kann schon über einen anderen sagen, ob er fern oder nah bei Gott ist? Das weiß doch nur Gott selbst.
Manchmal meine ich, ich habe viel von Gott verstanden. Ich kann gelehrt über ihn reden. Aber dann ertappe ich mich dabei, wie ich wütend meinen Nachbarn verwünsche, weil der mir zuleid lebt. Wie schwer ist es, seinen Nächsten zu lieben? Wie schwer ist es, ihn zu verstehen?
Wie oft bin ich anderen nicht gerecht geworden?
Wie oft habe ich jemanden über den Tisch gezogen und nur an meinen Gewinn gedacht?
Mich selbst soll ich auch lieben – ach, das ist vielleicht sogar am schwersten. Manchmal liebe ich nur mich selbst und manchmal verzweifele ich an mir.“
Betroffen schaut der Gelehrte zu Boden.
„Du bist nicht fern von Gottes Reich.“
„Ich weiß schon, was du meinst, Jesus.
Spottest du über mich? Es stimmt ja: ich rede viel über Gott und kann ihn doch nicht erreichen.“
Alle sind still.
Keiner wagt, Jesus zu fragen.
Schließlich sagt der Schriftgelehrte es doch:
„Nicht fern von Gottes Reich,
aber wie komme ich dorthin?“
Zögernd schaut er Jesus wieder an.
Der lächelt ihm freundlich zu und
reicht ihm die Hand.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen
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